Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

VII. Beginn ganz unten: Die Krypta

 

Wer sich zum ersten Mal dem Straßburger Münster nähert, tut dies in der Regel von Westen aus, indem er, langsam die Rue Mercière heraufkommend, frontal auf die Hauptfassade zugeht. Wir brauchen hier nicht den Eindruck zu schildern, den dieser Gang hinterläßt. Jeder, der das Münster auf diese Weise kennengelernt hat, wird sich gut daran erinnern; und den anderen wollen wir dieses Erlebnis nicht vorwegnehmen.

          Die Westfassade des Münsters übt auf den Besucher zumeist eine so gewaltige Wirkung aus, daß es ihm sehr schwer fallen dürfte, sie beim ersten Erblicken auch nur halbwegs geordnet und mit ihren Einzelheiten ins Bewußtsein aufzunehmen. Wir wollen deshalb den Neuankömmling vorerst einfach seinem Staunen und vielleicht seinen spontanen visuellen Entdeckungsreisen überlassen. Auch seinen ersten, wahrscheinlich langsamen, bedächtigen Gang durch das Innere der Kirche wollen wir nicht stören.

          Spätestens aber, wenn der Besucher am anderen Ende des Kirchenraumes angekommen ist, vor den Treppen etwa, die zum Chor hinaufführen, wird er feststellen, daß er das Erlebnis der Münsterbesichtigung mit so vielen Mitbesuchern teilt, daß es gar nicht so leicht fällt, sich wirklich auf einen bestimmten Eindruck, ein einzelnes Detail oder einen Zusammenhang zu konzentrieren. Immer findet er sich, wenn er gerade glaubte, einen ruhigen Beobachtungsplatz entdeckt zu haben, binnen Minuten inmitten einer gellenden Gruppenführung wieder, auf französisch, deutsch, italienisch oder polnisch. Auch wird immer irgendwo gemeißelt, und der Hall dieser Arbeiten, die das ganze Jahr über notwendig sind, kann sich zwischen den Arkadenpfeilern kreuz und quer ausbreiten und multiplizieren. Oder aber die unter der Vierung aufgestellte Orgel wird gerade in dem Moment ausgiebig und anhaltend in ihren tiefsten Baßregistern zu testen begonnen, wenn der Besucher, auf seiner Rückseite stehend, gerade das Gewölbe des Nordquerhaus studieren wollte.

          Bei vielen entsteht daher, verständlicherweise, schnell der Keim des Gedankens, daß man jetzt "im Prinzip" alles gesehen hat. Dazu kommt vielleicht die anschauliche Vorstellung eines gemischten italienischen Eises wieder ins Bewußtsein zurück, die man einige Zeit erfolgreich hatte verdrängen können; oder aber die immer brennender werdende Frage, wo sich denn hier wohl eine Toilette befinden möge; wieder ein anderer stellt sachlich fest, daß er soeben sein letztes Foto verschossen hat und daß sich damit jede weitere Besichtigung erübrigt; und ein Vierter bemerkt erschrocken, daß ein Mitglied seiner Großfamilie "abgängig" ist und daß demzufolge, angesichts der hier überall wogenden, schier unüberschaubaren und verschlingenden Menschenfluten, dessen sofortige Suche und Heimführung in die Familiengemeinschaft von ungleich höherer Priorität ist als jedwede zweckfreie Kunstbetrachtung.

 

Wir nun haben das Glück, bequem und ungestört zu Hause in unserem Lieblingssessel zu sitzen. Und so können wir uns in aller Ruhe, bei einer Tasse Kaffee, vielleicht einem Glas Wein oder etwas klassischer Musik im Hintergrund, jener eingehenderen Weise der Betrachtung und Wahrnehmung des Münsters zuwenden, aus der vielleicht nicht nur eine größere innere Befriedigung entspringt, sondern die uns auch zu einem weitaus tieferen Verständnis dieses phantastischen Bauwerkes führen kann.

          Unsere Beschreibung soll tief im Innern der Kirche beginnen, an jenem Ort, an dem die lange Baugeschichte ihren Anfang nimmt: in der Krypta. Wir wollen das Gebäude dann entsprechend seinem Bauverlauf aufrollen, der im wesentlichen von Ost nach West voranschreitet. Das bietet zwei Vorteile: einerseits läßt sich so die stilistische Entwicklung im Verlauf der fünfhundertjährigen Entstehungszeit des Münsters verfolgen; und andererseits schreiten wir in einer Weise voran, die uns von den einfacheren, leichter faßbaren Gestaltungsweisen zu den immer komplexeren führt, die ihren Höhepunkt schließlich in der überwältigenden Westfassade finden.

          Die meisten Besucher des Münsters werden die Krypta gar nicht sehen. Wenn sie nicht gänzlich verschlossen ist, wie im Winter, dann weisen doch zumindest Schilder eindringlich darauf hin, daß dieser Raum nicht zur Besichtigung, sondern nur zur stillen persönlichen Andacht und inneren Sammlung gedacht ist.

          Aber wenn deshalb die Krypta - durch ihr Verschlossensein und vielleicht den finsteren Anblick ihrer sich nach unten verengenden Treppen - für viele die Aura des Geheimnisvollen, Sagenumwitterten erhält, so darf man sie sich doch nicht wie ein finsteres Kellergewölbe vorstellen, in dem der Besucher über alte Grabplatten stolpert und von der Decke herabhängende Fledermäuse aufscheucht, einen Raum also, den die Erbauer der neuen, romanisch-gotischen Kirche der Einfachheit halber unter dem Boden des Chors belassen und dann mehr oder weniger vergessen - oder allenfalls noch als Kirchenverließ benutzt haben. Nein, all das ist natürlich nur kindliche Phantasie.

          Viel eher handelt es sich um einen Raum, der nicht nur von Anfang an bewußt in die Gesamtplanung des Neubaus einbezogen wurde, sondern der als eine sog. Hochkrypta auf die Gestaltung des gesamten Innenraums der Kirche einen zentralen Einfluß hatte. Reicht doch die Krypta mit ihrem Gewölbe weit über das Bodenniveau der übrigen Kirche hinaus und hat im Osten sogar ein Fenster, das auf den Bereich des hier früher gelegenen Kreuzgangs hinausgeht. Mußte daher schon in der Wernher-Basilika der Chor deutlich über dem Niveau des übrigen Kirchenraums angelegt werden, so galt das seit etwa 1140 (einem Zeitpunkt also, der noch vor dem romanisch-gotischen Neubau von 1176 liegt) auch für die Vierung: zu dieser Zeit nämlich wurde die Krypta nach Westen, um den gesamten Bereich unter der Vierung erweitert. Heute führt, vom Mittelschiff des Langhauses kommend, eine breite, zentrale Treppe hinauf zu Vierung und Chor, und beiderseits von ihr leiten schmale und sich nach unten verjüngende Treppen hinunter in die Krypta.

          Trotz ihrer beiden Teile, die ganz verschiedenen Bauphasen und andersartigen Stilen zugehören, bildet die Krypta heute einen einzigen, zusammenhängenden Raum mit einer sehr harmonischen Gesamterscheinung. Das liegt daran, daß beide Raumteile, der unter dem Chor gelegene ältere und der neuere unter der Vierung, als dreischiffige Halle mit in beiden Teilen gleicher Gewölbehöhe ausgeführt sind, und daß die Mittelstützen jeweils in denselben Fluchten liegen. Auch die Breite des Raumes ist im Ost- und im Westteil identisch, sieht man einmal von dem Phänomen ab, daß sich der neuere Teil nach Osten, zum älteren Teil hin, kontinuierlich etwas verbreitert, also leicht schräggestellte Wände und damit einen trapezförmigen Grundriß hat. Wahrscheinlich hat dies einen perspektivischen Grund: beim Übergang in den östlichen Teil (am Ende der trapezförmigen Verbreiterung) scheint sich der Raum auf diese Weise links und rechts absatzartig zu verschmälern, und zusammen mit dem hier um eine Stufe erhöhten Boden ergibt sich die typische architektonische Rhetorik eines Chors: durch allseitige räumliche Verengung die größere Bedeutung dieses Raumteils hervorzuheben.

          Die Ostkrypta folgt in ihrem Grundriß dem ottonischen Chor, weist also eine halbkreisförmige Apsis mit einem vorgelagerten queroblongen Rechteck gleicher Breite auf. Durch 2 x 2 Mittelpfeiler von kreuzförmigem Querschnitt wird der dreischiffige Raum in zwei Gewölbejoche zerlegt. Diejenigen des Mittelschiffes sind fast quadratisch, die in den Seitenschiffen des rechteckigen Raumteiles dagegen längsoblong. Im Scheitelpunkt des Halbkreises der Apsis öffnet sich die Wand zu einer um eine weitere Stufe erhöhten Altarnische, die etwas schmaler ist als das Mittelschiff. Der Grundriß der östlichen Seitenschiffe schließt dagegen mit Kreissegmenten ab. In diese gekrümmten Wandpartien, hinter denen sich die erwähnten massiven Mauerblöcke befinden, die den inneren Grundriß nach außen hin in ein Rechteck überführen, sind auf jeder Seite drei schmale, rundbogig überfangene Nischen eingelassen. Die zentrale Ostnische dagegen durchbricht den gesamten Mauerblock und erreicht eine Tiefe von fast einer weiteren Jochlänge. Sie wurde wahrscheinlich im 12. Jahrhundert umgestaltet, denn sie schließt oben mit einem leicht spitzbogigen Tonnengewölbe ab, und ihre Rückwand wird in der oberen Hälfte von dem ebenfalls leicht spitzbogigen Fenster ausgefüllt.

          In die durch die Mittelpfeiler gebildeten Längsachsen der Ostkrypta sind zusätzlich vier Säulen eingestellt, die die beiden Joche jeweils halbieren. Das Mittelschiff ist von einem rundbogigen, durch Gurte geteilten und von Stichkappen durchschnittenen Tonnengewölbe überfangen, die Seitenschiffe dagegen von Kreuzgratgewölben über rundbogigen Gurten. Eine schöne farbliche Gestaltung erhält die Ostkrypta dadurch, daß die rundbogigen Gewölbegurte und die Bögen über den seitlichen Nischen - im Gegensatz zu dem ganz aus roten Sandsteinblöcken gemauerten Wänden - einen gleichmäßigen Wechsel von roten und gelben Quadern zeigen. Der heutige, einfarbig hellbeige Gewölbeputz vervollständigt das harmonische Bild.

           Die Westkrypta wird von 3 x 2 schlanken Säulen in vier Joche gegliedert. Die entstehenden 4 x 3 Raumeinheiten sind diesmal alle kreuzgrätig eingewölbt und werden durch rundbogige Gurte voneinander getrennt, die denjenigen der Ostkrypta entsprechen. Während jedoch in der Ostkrypta die Gurte noch direkt in die äußeren Wände geführt sind, markiert nur durch vorkragende Kämpferplatten, ruhen sie in der Westkrypta auf Halb- bzw. Dreiviertelsäulen, die den Wänden (und den auf der Grenze zur chorartig angehobenen Ostkrypta stehenden Kreuzpfeilern) vorgelegt sind und von denen zusätzlich explizite, vor den Wänden entlangführende Schildbögen ausgehen.

          Die klare Struktur der Formen verleiht der Krypta insgesamt eine Atmosphäre der Schlichtheit und des Gleichmaßes. Hier und dort finden sich, wie Farbtupfer eingestreut, kleine Abwechslungen: so zeigen zwar die Gurtbögen der Westkrypta nicht mehr den gleichmäßigen Wechsel von roten und gelben Quadern wie im Ostteil; dafür aber tritt dieser Wechsel jetzt mal von einer Säule zur nächsten auf, oder aber zwischen Säulenschaft, Kapitell und Kämpferplatte.

          Schließlich wird sich, wie von selbst, der Blick des in der Stille dieses Raumes zur Ruhe gekommenen Betrachters auf die Details der Bauglieder richten. Er wird etwa auf den schlanken, sich nach oben verjüngenden Säulen der Westkrypta verweilen, auf ihren großen Würfelkapitelle, die nur mit Halbkreisformen und Graten verziert sind (sog. "Scheibenwürfelkapitelle"), auf ihren weit vorkragenden und stark profilierten Kämpferplatten, oder aber den attischen Säulenbasen mit ihren Eckspornen. Wer weiter vorne im Raum sitzt, dessen Augen kommen vielleicht auf den Trapezblockkapitellen der Säulen der Ostkrypta zur Ruhe, die sich in einem tief durchskulptierten Geflecht von pflanzlichen Ranken aufzulösen scheinen und an deren Ecken teuflisch dreinblickende Tierköpfe anhaften (vermutlich Ende des 11. Jahrhunderts), an den ebenfalls mit Pflanzenmotiven skulptierten, vorkragenden Kämpferbändern der Altarnische, oder aber einfach an dem Zierschlag einiger Mauerquader, geometrischen, in ihre Sichtflächen eingeschnittenen Mustern.

 

 

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