Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XXXII. Der doppelte Wimperg über dem Mittelportal

 

Das Straßburger Mittelportal ist von einem doppelten Wimperg überfangen: einem spitzen, bis zum Rahmen der Rose heraufreichenden, und einem dicht davorgestellten flacheren, stumpferen. Beide Wimperge sind durchbrochen und lassen auf diese Weise, durch ihre Öffnungen hindurch, sowohl das dahinterliegende, der Wand vorgebaute Harfenmaßwerk als auch die Mauerwand selbst erkennen. Die beiden Wimperge bilden somit an dieser herausgehobenen Stelle der Westfassade eine dritte und vierte Schicht in ihrer plastischen Ausgestaltung!

          In der Ebene der dritten Schicht, also auf den Schrägen des spitzen, hohen Wimpergs, stehen auch dessen Fialen, die, wie wir gesehen haben, in der Mitte bis zum Zentrum der Rose heraufreichen. Statisch werden die beiden Wimperge durch einen breiten Pfeiler unterstützt, der auf der Spitze des Bogenfeldes des Portals aufsitzt und bis zur Spitze des oberen Wimpergs führt. In diesen Pfeiler sind zwei große Nischen eingelassen, die die Form von Thronsesseln haben. Hier sitzen übereinander König Salomon (auf der Höhe der Spitze des flacheren, unteren Wimpergs) und Maria mit dem Kind (zwischen den Spitzen von unterem und oberem Wimperg). Das Dreieck in der Spitze des oberen Wimpergs, oberhalb der thronenden Maria, ist mit einem Relief geschmückt, das das Antlitz Gottvaters zeigt, vor einem Malteserkreuz und umgeben von sechs kleinen Sternen.

          Die Bereiche rechts und links des mittleren Stütz- und Figurenpfeilers sind beim hinteren, hohen Wimperg mit ansteigenden Spitzbogenarkaden ausgefüllt. Die sich zwischen Arkadenbögen und den von ihnen getragenen Wimpergschrägen ergebenden Zwickel werden von Reliefen geziert, die merkwürdige, zwitterhafte Wesen darstellen. Die Schrägen selbst sind, zusätzlich zu den riesenhaften Fialen, in den verbleibenden Zwischenräumen auf den Außenkanten mit Vollplastiken besetzt, bei denen es sich um bärtige Männergestalten, vermutlich Propheten handelt.

          Die Schrägen des vorderen, flacheren Wimpergs sind freitragend zwischen Wimpergpfeilern und stützendem Mittelpfeiler eingestellt. Auf ihren Oberkanten ist eine Folge von jeweils sieben rechtwinkligen Stufen angebracht. Auf den jeweils sechs unteren sitzen Bärenjunge, die paarweise miteinander spielen. Auf den beiden siebten Stufen, die sich auf Augenhöhe des Salomon befindet, stehen ausgewachsene Bären und recken sich zum Fuß des Thrones Mariä empor. Die Dreiecke der Stufen sind mit Reliefs ausgefüllt, die wiederum Fabeltiere zeigen.

          Links und rechts des thronenden Salomon stehen zwei deutlich kleinere Skulpturen, die erneut als Ekklesia (vom Betrachter aus links) und Synagoge (vom Betrachter aus rechts) deutbar sind. Es ergibt sich also dieselbe Figurenkonstellation wie am Portal des südlichen Querhauses. Trotzdem ist der Akzent am Hauptportal der Westfassade ein anderer: der biblische König hält hier kein Schwert in Händen, sondern ein entrolltes Spruchband. Er ist nicht in seiner Funktion als Richter dargestellt, sondern als Sinnbild der alttestamentarischen Weisheit.

          Auch der Maria sind zwei kleine, weibliche Seitenfiguren beigegeben, bei denen es sich um ihre beiden Schwestern, Alma und Miriam, handeln soll.

          Die thronende Gottesmutter, im 20. Jahrhundert zum zweiten Mal nachgeschaffen, strahlt tiefe Entspannung und innere Ruhe aus. Die Züge ihres jugendlichen Antlitzes sind edel und gleichmäßig, auf dem Kopf trägt sie eine Krone. Auch der Ausdruck des Kindes, das auf ihrem Schoß steht und das Maria mit beiden Händen frontal vor ihrer Brust hält, ist von großer Heiterkeit und Gelassenheit geprägt. Dabei bleibt sein Gesicht das eines Kindes, und nicht, wie man es so oft findet, dasjenige eines auf einen kleineren Maßstab reduzierten Erwachsenen. Das Kind grüßt - nein, segnet natürlich - mit seiner rechten Hand den Betrachter, in der linken hält es den Apfel, als Insignium seiner göttlichen Macht auf Erden.

          Genau auf der Höhe der thronenden Maria befindet sich das belichtete Triforium mit seinen sechs rechteckigen Fensteröffnungen, die vom Innenraum aus unterhalb der Rose erscheinen. Von außen dagegen sind diese Fenster fast nicht auszumachen.

          Ausgehend von der stehenden Madonna in der Nische des Mittelpfeilers des Portals können wir eine senkrechte Achse beschreiben, die bis ins Zentrum der Rose hochführt. Genau über der Madonna finden wir dreimal die Darstellung Christi im Tympanon: im zweiten Register den gekreuzigten, darüber den auferstandenen und ganz oben den himmelfahrenden. Oberhalb der Archivolten thront Salomon, darüber die sitzende Madonna und ganz oben, in der Spitze des Wimpergs sehen wir Gottvater. So entsteht eine aufsteigende Linie von Bildern, die sich im unteren Teil aus dem Lebens- und Leidensweg Christi, im oberen Teil aus einer abstrakteren, allegorischen Folge von Figuren zusammensetzt. Der doppelte Wimperg, der das Tympanon mit seiner Darstellung der konkreten Lebensgeschichte Jesu' übergreift, läßt sich als die aus den beiden Teilen bestehende Weisheit der Bibel verstehen, die für das Alte Testament von Salomon, für das Neue von der thronenden Madonna mit dem Kind Jesu verkörpert werden.

          Mit der Darstellung von Gott als bloßem Abbild, als Relief in der Spitze des Wimpergs, ist die "Weisheit" der Münsterfassade aber noch nicht erschöpft: die Mittelfiliale weist noch weiter hinauf, zeigt in das Herz der großen Rose. Diese aber lenkt, in ihrer Eigenschaft als Fenster, das Bewußtsein des Betrachters in den Innenraum der Kirche hinein. So wie der Gläubige einen Schritt tun muß, um sich, in einem Akt des Loslassens, vertrauensvoll ganz in die Hand Christi zu begeben und sein Leben aus ihm heraus neu zu gestalten, so soll der Betrachter der Fassade angeregt werden, nun endlich die Schwelle des Portals zu überschreiten und in das heilige Haus der christlichen Gemeinschaft einzutreten.

 

 

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