Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
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XV. Johanneskapelle, Kapitelsaal und Leichhöfel

 

Wer das Straßburger Münster besichtigt und einmal dem Lärm und dem Getriebe entgehen will, die in dem riesigen Kirchenraum praktisch ständig vorherrschen, der findet in der Johannes dem Täufer geweihten Kapelle einen Ort, um in der relativen Abgeschiedenheit und Stille wieder zu sich zu kommen. Wir haben diese Kapelle, mit dem Kapitelsaal darüber, schon bei der Beschreibung des nördlichen Querhauses erwähnt, von dem aus sie durch ein nachträglich in die Ostwand eingefügtes Spitzbogenportal zugänglich ist.

          Genau wie das Portal ist die gesamte Kapelle im gotischen Stil erbaut und hebt sich damit von dem durchweg noch romanisch gestalteten nördlichen Querhausflügel ab. Die Johanneskapelle ist der erste gotisch ausgeführte Bauteil der Kathedrale gewesen, und in seinen Formen finden wir die unmittelbaren Vorläufer derjenigen, die kurz darauf im südlichen Querhaus zur Anwendung kamen, höchstwahrscheinlich durch denselben Baumeister.

          Dem Gewände des Portals sind an den Seiten je zwei Säulen eingestellt, über deren Kapitellen und Kämpfern wulstige Archivolten aufsteigen. Die eigentliche Besonderheit dieses Portals liegt aber in dem in sein Bogenfeld eingeschriebenen großen Dreipaß, der den äußeren Spitzbogen in einen inneren Dreipaßbogen als Portalöffnung überführt.

          Wir gehen, indem wir eine eingelassene Glastür passieren, die wir hinter uns wieder schließen, einige Stufen hinunter und befinden uns im mittleren Schiff eines Raumes, der dieselbe Grundanlage wie die Andreaskapelle auf der anderen Seite des Chors hat. Vier Freipfeiler erzeugen eine etwas längsrechteckige Halle, bestehend aus neun Gewölbejochen. Die beiden östlichen Freistützen sind als kompakte Einzelsäulen angelegt, die beiden westlichen als vierfache, in Kreuzform angeordnete Säulenbündel. Die schweren Rippen des Kreuzgewölbes sind in Halbkreisen diagonal über die Joche geführt und haben einen fünfseitig polygonalen Querschnitt. An den Wänden ruhen sie auf Konsolen, an der zum Chor angrenzenden Wand auf schweren und kurzen (weil auf einem hohen Sockel) vorgestellten Säulen. Diese Säulen zeigen als einzige Elemente der Johanneskapelle noch eine Formgebung aus romanischer Zeit: ihre trapezblockförmigen Kapitelle tragen als Schmuck diamantierte Bänder.

          Symmetrisch zur Anlage der Andreaskapelle, führt von der Johanneskapelle ein in die Ostwand ihres nördlichen Schiffes eingelassenes Portal zum Bruderhof.

          Der gotische Charakter der Johanneskapelle ist auch an ihrem Außenbau gut zu erkennen. Im Gegensatz zu der gesamten übrigen Ostfassade des Münsters zeigt sie eine Strukturierung durch Strebepfeiler entsprechend der Jochaufteilung des Innenraums. Im Obergeschoß, das durch ein um die Strebepfeiler herum verkröpftes Wasserschlaggesims von der Kapelle optisch abgegrenzt ist und oben von einem hinter einer Maßwerkbrüstung gelegenen Walmdach abgeschossen wird, öffnen sich die Wandflächen zu Gruppen von jeweils drei Fenstern, zwei schmalen Spitzbogen- und einem kleinen Rundfenster darüber. Hinter diesen Fenstern liegt der Kapitelsaal, der den Domherren als Tagungsraum diente. Sein Gewölbe ist ähnlich wie das der darunterliegenden Johanneskapelle aufgebaut. Allerdings haben sich die Freistützen weiterentwikelt: die Basen der jetzt schlanken Einzelsäulen haben sich verändert, und zu den fleischigen, Eckvoluten bildenden Knospen der Kapitelle sind jetzt einzelne davorgelegte, sehr naturalistische Blätter hinzugekommen. Diese Kapitelle sind mit denjenigen des oberen Südquerhauses schon sehr nahe verwandt.

          Nördlich der Johanneskapelle, zwischen diesem Gebäudeteil und der Massol-Sakristei, erstreckt sich der Leichhöfel, der, wie man seinem Namen entnehmen kann, früher ein kleiner Friedhof war. Man fand hier, nachdem der Bereich jahrzehntelang als Materiallager mißbraucht worden war, die Epitaphe nicht nur des legendären Baumeisters der Westfassade, Erwin von Steinbach, samt seiner Familie wieder, sondern auch diejenigen so bedeutender Baumeister des 15. Jahrhunderts wie Johannes Hültz, der den Westturm vollendete, Hans Hammer, der die Kanzel im Langhaus schuf, und Jakob von Landshut, dem wir die ehemalige Laurentiuskapelle mit ihrem reich skulptierten Portal verdanken.

          Kommen wir noch einmal in die Johanneskapelle zurück. Im Gegensatz zur gegenüberliegenden Andreaskapelle dient sie heute nicht als Lagerort für zu verkaufende Kirchenführer, oder bestenfalls als Raum für gelegentliche Ausstellungen, sondern in ihr werden nach wie vor Messen zelebriert. Der Ort ist daher gepflegt, atmet noch den religiösen Geist und bietet sich hervorragend zur Meditation an. Außerdem weist er eine Anzahl von Kleinodien auf, die ein intensiveres Studium verdienen. Da sind zum Beispiel die Kapitelle, an denen wir den Formübergang von der Romanik zur Gotik ablesen können. Rechts neben dem Altar ist eine der Wandkonsolen skulptiert und nimmt jene Atlanten vorweg, denen wir im Südquerhaus, jetzt also an deutlich hervorgehobenerer Position, wiederbegegnen. Auch ein skulptierter Schlußstein, der Johannes mit dem Lamm zeigt (symbolisch für Christus, den Johannes getauft und als "Opferlamm Gottes" bezeichnet hat), fällt uns ins Auge.

          Zwei weitere Werke der Johanneskapelle sind für die Skulptur der Gotik weit über das Straßburger Münster hinaus von Bedeutung. In einer kleinen Nische am Ostende der Südwand liegt die Grabstätte des 1299 verstorbenen Bischofs Konrad von Lichtenberg, unter dessen Amtszeit mit dem Bau der Westfassade begonnen worden war. Hinter einer hölzernen Maßwerkarkade und unter Baldachinen zeigt eine Grabskulptur den Bischof, liegend auf einer etwa einen halben Meter über dem Boden befestigten Steinplatte. Wir kennen das Motiv des liegend dargestellten Würdenträgers von den Grabplatten und den Sarkophagdekeln her. Hier jedoch hat sich die Skulptur weitgehend verselbständigt, vom eigentlichen Grab räumlich gelöst. Der Bischof ist auf ausgesprochen plastische Weise dargestellt, in vollem Ornat, seine Augen sind geöffnet, das Gesicht mit einem Anflug von Lächeln leicht nach vorn zum Betrachter geneigt. Vielleicht wollte der Bildhauer damit der Tatsache Ausdruck verleihen, daß Konrad nicht an Altersschwäche, nicht eines natürlichen und vorhersehbaren Todes gestorben war, sondern plötzlich und mitten aus dem tätigen Leben heraus.

          Das zweite Meisterwerk bezieht sich wiederum auf eine Grabstätte, diesmal diejenige eines Kanonikers namens Konrad Busang. Die Werkart, diejenige des Epitaphs, stellt eine noch weiter vom eigentlichen Akt der Grablegung abstrahierte Form des skulpturalen Totengedenkens dar. Nun wäre das Epitaph eines Domherren des Straßburger Münsters für uns heute bedeutungslos, wäre es nicht eines der wenigen vollständig erhaltenen Werke dieser Art des berühmten Nikolaus Gerhaert von Leyden, aus dem Jahre 1464 stammend, wie die Inschrift besagt. Der flämische Meister arbeitete vor allem in Deutschland und übte dort auf die Skulptur der Spätgotik einen herausragenden Einfluß aus.

          Das relativ kleine Relief wird von einem Eselsrückenbogen eingefaßt. Unter den Bogenläufen öffnet sich dem Betrachter die perspektivisch gestaltete Scheinarchitektur eines Gewölbes. Im Vordergrund sind drei Figuren dargestellt: rechts der Kanoniker, die Hände zum Gebet zusammengelegt, links die junge, bekrönte Mutter Gottes und in der Mitte das Kind. Die beiden äußeren, als Büsten dargestellten Figuren neigen sich etwas nach innen und betrachten das Kind, das auf dem unteren Rahmen des Reliefs, in Schoßhöhe Mariens, zu sitzen scheint. Es ist nackt, fleischig und hält sich mit der rechten Hand an den Gewändern Mariens fest, während es sich lachend nach links zum Kanoniker hinüberneigt und, gestützt von der linken Hand der Mutter, seinen Arm zu ihm ausstreckt. Der Kanoniker ist naturalistisch portraitiert, im Zustand fortgeschrittenen Alters. Ein Spruchband, das aus seinen gefalteten Händen aufsteigt, kündet von der Anrufung Mariens. So läßt sich die Aussage des Werkes bald erschließen: die Frömmigkeit des alternden Geistlichen wird durch die "Berührung" mit dem "jugendlich" göttlichen, dem ewigen Leben belohnt.

 

 

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