Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XII. Die Andreaskapelle

 

Wir haben uns nun so lange im dunklen Nordflügel des Querhauses aufgehalten, wo wir bei der Betrachtung der Einzelheiten selten ohne künstliches Licht auskommen, daß es selbst dem Leser schon kalt geworden sein dürfte. Um so mehr werden wir also die Sonnenstrahlen zu schätzen wissen, die bisweilen in den gegenüberliegende, den Südflügel vordringen. Auch die Andreaskapelle, die sich an die Südflanke des Chors anlehnt und vom Südflügel des aus Querhauses zugänglich ist, profitiert, dank einer nach Süden gerichteten Fensteröffnung, von ihrer Lage. Sie war gegen 1190 der erste fertiggestellte Raum der neuen Kathedrale, einmal abgesehen von der Krypta.

          Die Ostwand des Querhaus-Südflügels zeigt einen ähnlichen - wenn auch nicht identischen - Aufbau wie ihr Pendant im Norden: das Untergeschoß wird auch hier in seinen beiden Hälften von je einer großen rundbogigen Blendarkade eingenommen. Die innere, linke ist auf derselben Höhe wie die innere des Nordflügels durch ein Gesims in zwei flachere Geschosse zerlegt. Anstelle des spitzbogigen Portals zur Johanneskapelle finden wir im Südflügel nun ein niedriges, doppeltes Rundbogenportal, das sich in die Andreaskapelle hinein öffnet. Darüber, im oberen Bereich der Arkade ist die Wand nicht wie im Nordflügel geschlossen und lediglich mit zwei kleineren, runden Blendbögen versehen, sondern durch eine echte Arkatur von drei Spitzbögen, deren mittlerer stark gestelzt ist und fast bis zum Scheitel des Rundbogen hinaufreicht, zu einer kleinen Tribüne von geringer Tiefe geöffnet, der sog. Sängertribüne. Die Spitzbögen sind auf kurzen, schlanken Säulen mit stark vorkragenden Kämpferplatten abgesetzt.

           Das Portal der Andreaskapelle unterscheidet sich stilistisch deutlich von der Kapelle selbst und man nimmt an, daß es bereits um 1150 entstanden ist. Seine beiden Rundbögen sind von einem gemeinsamen runden Entlastungsbogen überfangen, der bis unter die mit spätgotischem Maßwerk verzierte Brüstung der Sängertribüne reicht. Sie ruhen auf drei in Wandnischen eingestellten Säulen, die durch ihre "Doppelschild-Würfelkapitelle" auffallen: anstelle des einen, großen und nach unten gerichteten Halbkreises wie beim Scheibenwürfelkapitell (Krypta) zieren hier zwei kleinere, nebeneinanderliegende Halbkreise den würfelförmig kompakten Kapitellblock.

          Die Fläche über der Doppelarkade und unterhalb der Brüstung der Sängertribüne ist von einer Wandmalerei eingenommen, die aus dem 15. Jahrhundert stammt und zu den wenigen erhaltenen gotischen Fresken im Elsaß gehört. In der Art eines Triptychons gestaltet, erhebt es im mittleren Bild die Geburt Christi zum Thema, auf den Flügeln sind der hl. Nikolaus von Myra, links, mit Mitra und Bischofsstab, und der Apostel Andreas als Patron der Kapelle, rechts, mit Andreaskreuz, dargestellt.

           Der Anbau südlich des Chors ist, wie derjenige auf der Nordseite auch, zweigeschossig: über der Andreaskapelle, zu der hinter dem Doppelportal einige Stufen in das mittlere seiner drei Schiffe hinunterführen, liegt - also hinter der Sängertribüne - der ehemalige Tresorraum, der vom Chor aus zugänglich ist.

          Die beiden Apsiskapellen links und rechts des Chors hatten von Anfang an bestimmte Funktionen, die über diejenige als bloße Kapelle hinausgingen. Zum einen sollten sie Raum für die Grabstätten der Bischöfe bieten. Zum anderen bildeten sie aber auch die Durchgänge zu dem hinter dem Chor liegenden Kreuzgang, dem Bruderhof. Durch ihre symmetrische Anlage ermöglichte man, daß Prozessionen nun um den Chor herum verlaufen konnten, was aus liturgisch-symbolischer Sicht reizvoll erschien.

          Wir sind durch das rechte der beiden Portale in die Kapelle hinabgestiegen und blicken uns um. Der leicht längsrechteckige Raum ist durch vier eingestellte Säulen in neun Gewölbejoche gegliedert. Das mittlere Schiff der hallenartigen Anlage ist gegenüber den seitlichen etwas verbreitert. Die rundbogigen Bandgurte ruhen an den Wänden auf Konsolen, lediglich an der zum Chor angrenzenden Wand auf vorgestellten Säulen bzw. rechteckigen Eckpfeilern. Hier, im nördlichen Seitenschiff, finden wir auch noch Kreuzgratgewölbe vor, während in den beiden anderen Schiffen schwere, wulstförmige Rippen die Gewölbekappen tragen. Diese Rippen sind optisch nicht auf den Kämpferplatten der Säulen abgestellt, sondern verlaufen zwischen den Bandgurten, die so breit sind, daß sie selbst die gesamten Kämpferbreiten einnehmen, spitz zu und verschwinden so hinter ihnen, bevor sie die Kämpferplatten erreichen können. Das zentrale Joch der Kapelle ist durch einen schweren Schlußring herausgehoben. Auf der Ostwand des südlichen Schiffes, rechts von der zentralen Altarnische, führt ein einfaches Rundbogenportal zum Bruderhof; die Stirnwand des nördlichen Schiffes ist, offenbar nachträglich, spitzbogig durchfenstert worden.

          Nachdem wir diesen zur Abwechslung sehr überschaubaren und klar gegliederten kleinen Raum in seiner Gesamtheit erfaßt haben, können wir uns noch einmal seinen Stützen zuwenden. Die sich oben verjüngenden Säulen fußen auf attischen Basen mit Ecksporen in Form von "Eulenköpfen". Die Kapitelle, auf denen die profilierten und weit vorkragenden Kämpfer ruhen, sind als Blütenkelche gearbeitet, aus deren Innerem "Diamant"-besetzte Stengel zu Eckvoluten hervorwachsen. Diese interessanten Kapitelle sind für das Straßburger Münster insofern von Bedeutung, als sie sich - zeitlich etwa später - auch im Chor und an den Vierungspfeilern wiederfinden und eine der charakteristischen Handschriften des "Meisters der Andreaskapelle" bilden.

 

 

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