Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XIV. Der Engelspfeiler

 

Der Mittelpfeiler des Querhaussüdflügels unterstützt, genau wie im nördlichen Gegenüber, die vier Gewölbegurte und vier Diagonalrippen eines Kreuzgewölbes. Im Nordflügel hatten wir für diese zentrale Stützfunktion einen massigen, fast zwanzig Meter hohen, lediglich durch einen Schaftring und ein schlichtes, achteckiges Kapitell dekorierten Rundpfeiler vorgefunden. Im Südflügel nun ist der schwere, romanische Pfeiler durch eine gotische Lösung ersetzt. Aber dies ist keine - jetzt eben gotische - Standardlösung für einen zentralen Freipfeiler, sondern einen Bauteil, der eine solch kreative und in der Geschichte gotischer Baukunst einzigartige Komposition darstellt, daß er mit Recht als eines der herausragendsten Werke des Straßburger Münsters gilt. Die Rede ist vom Gerichts- oder Engelspfeiler.

          Es ist erwiesen, daß im Mittelalter im Südflügel des Münsters Gericht gehalten wurde. Und traditionell schmückte man diesen Ort der Kirche mit einer skulpturalen Darstellung des Jüngsten Gerichts. Das Bildmotiv des Weltgerichts aber, das sich aus dem Evangelium des Matthäus und der Apokalypse des Johannes ableitet, hat in der christlichen Baukunst eine herausragende Bedeutung. Dadurch, daß es im Verlauf der Jahrhunderte immer erneut aufgegriffen wurde, um das Kirchengebäude programmatisch auszugestalten, hat sich in ihm eine ähnlich starke Typisierung herausgebildet, wie sie uns etwa auch vom Marienbildnis geläufig ist. Ein gemeinsames Merkmal fast aller Darstellungen des Jüngsten Gerichts war nun aber die Verwendung einer Vielzahl von Figuren. Dies brachte es mit sich, daß sich das Bildmotiv am zweckmäßigsten in einem großen Tympanon über einem der Portale skulptieren ließ, denn hier konnte das Thema als ein großes, oft vielfältig in Register und Szenen strukturiertes Relieftableau präsentiert werden. Dutzende oder gar Hunderte von Erlösten oder aber Verdammten ließen sich hier unterbringen. Wir finden ein solches Relief auch am Straßburger Münster: über dem - allerdings erst ein halbes Jahrhundert später entstandenen - Südportal der Westfasssade.

          Zentrale Figur einer mittelalterlichen Darstellung des Jüngsten Gerichts ist der auferstandene, seine Wundmale vorweisende Christus als Weltenrichter, der über dem Bildwerk thront. Wie im Evangelium erwähnt, wird das Ende der Zeit von den posaunenblasenden Engeln angekündigt. Aber die Menschen sind schon vorher gewarnt und vorbereitet worden, durch die Texte der vier Evangelisten. Am Tag des Jüngsten Gerichts scheidet der Erzengel Michael mit der Seelenwaage die Geretteten von den Verdammten: diese werden in Scharen zur Hölle abgeführt, während jene in die himmlischen Regionen aufsteigen und neben den Heiligen Platz nehmen dürfen. Ein beliebtes Element einer Gerichtsdarstellung ist auch die Deesis: Maria und Johannes der Täufer (später meist Johannes der Evangelist) knien links und rechts von Christus dem Richter und bitten diesen um Barmherzigkeit mit den sündig gewordenen Menschen.

          Die gotischen Baumeister des südlichen Querhauses sahen sich vor das Problem gestellt, daß die Bogenfelder über den beiden Portalen bereits in romanischer Zeit skulptiert worden waren, und zwar, wie wir noch sehen werden, mit anderen Szenen. Außerdem waren sie zu klein für eine der typischen, episch-breiten Darstellungen des christlichen Weltenendes.

          Es mag aber auch sein, daß den neuen gotischen Baumeister, die es gewohnt waren, höchste ästhetische Ansprüche an die von ihnen geschaffenen Bauwerke zu stellen, der Freipfeiler, wie er durch die romanische Grundanlage des Querhauses nun einmal auch für den Südflügel unverzichtbar blieb, ein Dorn im Auge war. Mochte man hier die Schwere etwa des nördlichen Mittelpfeilers auch noch so sehr, nach gotischer Manier, in ein Bündel überschlanker Streben auflösen, so richtig gotisch wurde der südliche Querhausflügel dadurch doch nicht. Zu drückend lasteten, gerade im unteren Bereich des Raumes, noch die alten, aus romanischer Zeit stammenden Wandpartien.

            Welches Argument nun auch immer den Ausschlag gab, Tatsache ist: im Südflügel des Querhauses zu Straßburg wird zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte gotischer Baukunst ein Freipfeiler zum Träger eines Jüngsten Gerichts.

           Der achtzehn Meter hohe Pfeiler hat einen achteckigen Kern. Vor seine acht Seiten sind schlanke Runddienste gestellt, vier Hauptdienste für die Gewölbegurte (die ihrerseits das Profil zweier nebeneinanderliegender Birnstäbe aufweisen) und vier schlankere Nebendienste für die Rippen (einfacher Birnstab). Ausgerechnet diese filigranen Nebendienste tragen nun jeder drei übereinanderstehende, fast lebensgroße Skulpturen.

           Das Thema des Jüngsten Gerichts ist lediglich anhand dieser zwölf Figuren dargestellt. In der untersten Reihe sehen wir die vier Evangelisten, jeder auf einer Konsole stehend, die mit seinem persönlichen Symbol skulptiert: Stier, Löwe, Adler und Engel. Die Unterkanten der Konsolen befinden sich etwa zwei Meter über dem Boden, also schon oberhalb der Augenhöhe. Auf den Baldachinen der Evangelisten stehen vier Engel, die sich gerade anschicken, in eindrucksvoll geschwungene Posaunen stoßen. Auf ihren Baldachinen wiederum sehen wir drei weitere Engel und einen sitzenden Christus, der die Wundmale an Händen und Füßen zeigt und auch die rechte Seite der Brust entblößt hat. Die Engel um ihn herum tragen die Leidenswerkzeuge: einer das Kreuz und die drei geschmiedeten Nägel, der zweite die Dornenkrone und ein dritter Lanze und Essigschwamm (letztere beide Attribute sind aber heute nicht mehr vorhanden).

          In der untersten Reihe sieht der gläubige Betrachter also diejenigen vor sich, die das Wort verkünden, in dem vom Ende der Welt die Rede ist. Durch die Evangelisten sind wir gewarnt, durch ihre Schriften, die sie demonstrativ entrollt in Händen halten und die uns in der Kirche allgegenwärtig sind. Heben wir unseren Blick, so begegnen wir den Posaunisten, die alle auf merkwürdige Weise die Köpfe verrenken, um uns mit fast liebevollem Gesicht anzusehen.

          Und über ihnen thront der Heiland, mitfühlend, gütig, frontal uns zugewandt, mit einem Gestus, der sprechend ist: seht her, ich bin durch das Leiden hindurchgegangen, und nun bin ich hier; habt also keine Angst und folgt mir nach! Die drei Engel um ihn herum sind seine Zeugen.

          Tatsächlich sehen wir auf dem Sockel, auf dem Christus sitzt, drei kleine skulptierte Figuren, die ihre Hände zu ihm emporrecken: drei Auferstandene, Gerettete.

          Wo aber sind die Verdammten, die sonst, auf den großen Reliefs des Jüngsten Gerichts, zu Hunderten und kläglich jammernd von gnadenlosen Gestalten in den Höllenschlund getrieben werden? Wo ist Michael mit der Seelenwaage? Wo sind Maria und Johannes, die einen kalten, hartherzigen Christus beknien müssen?

          Um dies zu verstehen, müssen wir uns noch einmal die Körperhaltungen und vor allem die Gesichter der zwölf Figuren ansehen, ausführlich, eine nach der anderen. Ganz allmählich wird uns dann die Größe des unbekannten Baumeisters gewahr.

 

 

Weiter mit dem nächsten Kapitel

 

Die Seiten und ihre Inhalte sind urheberrechtlich geschützt! Copyright © Roland Salz 2000 - 2024

Version 21.1.2024

Impressum   Datenschutzerklärung