Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XXXV. Epilog: Auf dem Münstervorplatz

 

Wieder unten auf dem Münstervorplatz habe ich das starke Bedürfnis, mich hinzusetzen und wieder fest zu verankern auf einem gänzlich schwankungsfreien Boden. An Cafés mit Freisitzen mangelt es vor dem Münster nicht; und doch muß ich eine Weile suchen. Denn mit einem Mal erscheint mir die Fassade des Münsters als zu drückend, zu dominierend, einfach in zu großem Maßstab angelgt. Denjenigen, der sie im Rücken hat, mag sie überhöhen, wie den einsamen Gitarristen zum Beispiel, der sich hier postiert hat wie vor einer gigantischen Bühnenkulisse. Aber wer der Sandsteinwand gegenübersteht, oder gar sitzt, der fühlt sich mitunter auf unangenehme Weise beengt.

          Ich entferne mich also etwas vom Münster, ohne es allerdings aus dem Blick zu verlieren. Gegenüber der Maison Kammerzell, ganz an der nordwestlichen Ecke des Münsterplatzes gelegen, finde ich einen Sitzplatz, an dem ich mich, im Angesicht des berühmten, alten Fachwerkhauses, wieder in meiner natürlichen Körpergröße empfinden kann. Ich bestelle also einen café crème und lehne mich zurück, lege die Füße wenn nicht auf den nächsten Stuhl, so doch wenigstens auf den Sockel des Ständers für den aufgespannten Sonnenschirm. Ich schließe die Augen einen Moment und genieße die kurze, schläfrige Phase, bevor der Kaffee die Lebensgeister zurückholt. Dann öffne ich sie wieder und beobachte das Schauspiel des tiefstehenden Sonnenlichts, das jetzt durch die Rue Mercière frontal auf die Westfassade der Kathedrale fällt. Immer mehr intensiviert sich die rote Färbung des Sandsteins, immer unwirklicher greifen Licht und Schatten in das filigrane Stab- und Figurenwerk hinein.

          Der Münsterplatz, der sich auf drei Seiten der Kirche erstreckt, ist auch heute noch zum großen Teil von den alten Fachwerkhäusern umstellt, wie sie das Bild einer weitläufigen Altstadt prägen, die im Krieg weitgehend unzerstört blieb. Die Häuser sind aber hier deutlich größer und höher als etwa in der Petite France. Meist weisen sie zwischen einem steinernen Erdgeschoß mit Arkadenbögen einerseits und den Traufen der Satteldächer andererseits, die sich der Straße zuneigen, drei weitere Fachwerkgeschosse auf. Die Dächer sind steil und hoch und zeigen nicht selten noch einmal drei Geschosse, von zahlreichen kleinen Schleppgauben markierte und auch an den durchfensterten Giebeln ablesbar. Alle sind sie mit flachen, schindelartigen Dachziegeln bedeckt. Zwischen diesen noch spätmittelalterlich wirkenden Fachwerkhäusern an der Place de la Cathédrale und an den hier zusammenlaufenden Gassen, der Rue Mercière von Westen, der Rue des Orfèvres von Norden oder der Rue du Maroquin von Süden, den vereinzelten steinernen Treppengiebelwänden, die die Holzhäuser zum Zwecke des Brandschutzes voneinander trennen und weit überragen, und einigen Bürgerhäusern aus der Renaissancezeit finden sich aber auch Wohnhäuser im klassischen französischen Stil, mit ihren hohen, von steinernen Rahmen eingefaßten Fenstertüren und lamellenbesetzten Klappläden, mit Mansarddächern und großen, lukarnenartigen Dacherkern.

          Im Süden grenzt an das Münster die Place du Château, weiträumig, von großen Kastanien bestanden, aber zum großen Teil als Parkplatz benutzt. An diesem Platz konzentrieren sich einige Gebäude von repräsentativem Charakter, die alle im Zusammenhang mit dem Münsterbauwerk stehen. Das älteste von ihnen ist das Frauenhaus, der Sitz der bereits mehrfach erwähnten, schon seit dem 12. Jahrhundert bestehenden, ab dem 13. Jahrhundert eigenständigen und als Werk Unserer Lieben Frau bezeichneten Bauhütte. Ihr obliegt seit Jahrhunderten nicht nur die organisatorische und künstlerische Leitung aller das Münster betreffender Bauaufgaben, sondern auch die Sorge für deren Finanzierung und Verwaltung. Der linke und ältere der beiden ganz aus Stein errichteten Baukörper geht auf einen "Neubau" aus dem Jahre 1347 zurück und zeigt dem Platz eine dreistöckige, gesimslose und heute beige verputze Front mit einem ebenfalls dreistöckigen Treppengiebel darüber. Das Pendant auf der rechten Seite ist eine Erweiterung aus der Renaissancezeit (1578-82). Seine etwa gleichgroße Fassade ist durch Gesimse gegliedert, hat wesentlich größere Fensterflächen und zeigt einen geschweiften, volutenverzierten, ebenfalls dreistöckigen Giebel. Verbunden werden beide Teile durch eine Mauer, die einen Innenhof abgrenzt und nur von einem kleinen Portal im Renaissancestil durchbrochen wird. Der aufwendige Gestus dieser Fassade und dieses Bauwerkes verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, daß die Straßburger Münsterbauhütte im späten Mittelalter - auf entscheidendes Betreiben des Baumeisters Johannes Hültz, der für Straßburg noch mehr Ambitionen hegte als den höchsten und gewagtesten Kirchturm seiner Zeit -  zur obersten Bauhütte im gesamten deutschen Reichsgebiet aufgestiegen war, mit der Schiedshoheit für alle die Bauhütten betreffenden Streitigkeiten.

          Östlich des Frauenhauses, gegenüber dem südlichen Querhausflügel des Münsters, lag einstmals der Palast, den sich Fürstbischof Wernher im 11. Jahrhundert hatte bauen lassen, zur gleichen Zeit wie seine neue Bischofskirche. Bis zur Vertreibung des Bischofs aus der Stadt im Jahre 1262 diente sie als dessen Wohn- und Amtssitz. Unter der Herrschaft der französischen Könige - Ludwig XIV. hatte im Westfälischen Frieden 1648 das Elsaß erhalten und 1681 auch dessen alte Hauptstadt Straßburg annektiert - kehrten die Fürstbischöfe in die Stadt zurück, mit den Zeiten der freien Reichsstadt und dem Protestantismus war es vorbei. Kardinal Gaston-Armand-Maximilien de Rohan-Soubise, Fürstbischof zu Straßburg, ließ sich 1731-42, nach den Plänen des königlichen Hofarchitekten Robert de Cotte aus Paris, der das Bild Straßburgs auch mit einer Reihe anderer Bauwerke entscheidend prägte, an der Stelle der alten Bischofspfalz ein Schloß im Stil des Louis quinze errichten, in der Art eines Stadtpalais' des Adels.

          Joseph Massol, den wir schon als Schöpfer der achteckigen Kanoniker-Sakristei des Münsters kennengelernt haben, nördlich der ehemaligen Laurentiuskapelle und des Laurentiusportals gelegen, führte dieses nun sog. Rohan-Schloß aus, das als das wichtigste Bauwerk aus der Epoche der französischen Klassik in Straßburg gelten kann.

          Das dem Kardinal zur Verfügung stehende Grundstück erstreckte sich von der Place du Château gegenüber dem Münster bis hinunter zum Ufer des südlichen Ill-Armes und war seitlich begrenzt von den beiden Gassen Rue de Rohan und Rue du Bain-aux-Roses. Das langgestreckte Hauptgebäude des Schlosses (corps de logis) wurde nun parallel zum Fluß plaziert und wendet diesem seine Hauptfassade zu. Diese Fassade, die durch jeweils dreiachsige, etwas vorspringende Eckpavillons, einen ebenfalls dreiachsigen Mittelteil und zwei je vierachsige Verbindungsbauten konstituiert ist, weist hier drei hohe Stockwerke auf, deren unterstes - aufgrund des zum Fluß hin abfallenden Geländes - jedoch in Wahrheit ein Kellergeschoß ist. Das mittlere Geschoß beherbergt die eigentlichen Empfangs- und Repräsentationsräume (Grands Appartements), deren räumliches (nicht aber zeremonielles) Zentrum der Salon des Évêques bildet. Er liegt im zentralen Gebäudeteil, der nicht nur durch vier über einer kleinen Terrasse vorgebaute korinthische Säulen betont ist, die in der Art einer Monumentalordnung über zwei Stockwerke reichen und über einem Architrav in Höhe des Kranzgesimses der Fassade einen Dreiecksgiebel tragen, sondern auch von einer Flachkuppel überwölbt wird, erkennbar von außen an dem Dach mit den konvexen Graten.

          Münsterseits erstrecken sich von den Enden des Haupttraktes aus flachere Seitenflügel, in denen Wirtschaftsgebäude und Stallungen untergebracht waren. Sie umschließen U-förmig den Ehrenhof, der der Münsterseite des Haupttraktes vorgelagert ist. Dieser gepflasterte Hof wird gegen den Münsterplatz vollständig abgeschirmt, und zwar durch eine Mauer, die ausgehend von zwei Eckpavillons in Viertelkonchen zurückweicht und in der Mitte nur die Toröffnung freiläßt. Auf der Rückseite dieser Mauer befindet sich ein peristyllartiger Säulengang. Auch zu den Seitenflügel wird der Ehrenhof durch Mauern abgetrennt, die den Blick auf kleine Seitenhöfe verstellen.

          Das Rohan-Schloß hebt sich baulich vom Münster nicht nur durch den ganz andersgearteten Stil und die andersartige Funktion ab, sondern auch durch die Verwendung von gelblichem Kalkstein, anstelle des für das Münster durchweg benutzten roten Sandsteins.

          Vor der dem Münster zugewandten Fassade des Schlosses stehend, dessen Ein- und Ausgänge nicht in dieser Schaufront, sondern in den beiden Seitenflügeln liegen, kann man sich vielleicht das Zeremoniell des Vorfahrens, Aussteigens und der Begrüßungen vorstellen, das den illustren Gästen dieses Palais' im 18. Jahrhundert zuteil wurde, im Anblick einer die Tormauern weit überragenden, beinahe bedrohlich wirkenden mittelalterlichen Kathedrale...

 

Voilà, Monsieur!"

          Der gewitzte, freundliche Blick des Kellners reißt mich aus meinen Gedanken und bringt mich in die Gegenwart zurück. Mit einer geübten Bewegung schiebt er das kleine, silberfarbene Tablett mit dem Kaffee vom Rand aus auf das Tischchen bis vor meinen Platz. Ich bedanke mich, und während ich langsam trinke, der Kaffee ist heiß und stark, schaue ich mir in Ruhe und aus der Nähe die Fassade der Maison Kammerzell an, jenes Prunkstücks wohlhabenden Bürgertums hier am Münsterplatz, mit den überreichen Schnitzereien in den Fachwerkbalken und dem warmen Braunton der Felder ihres Giebels, im Licht einer späten Nachmittagssonne.

          Dann wandert mein Blick noch einmal, ein letztes Mal, die Fassade des Münsters entlang. Da steht er, der Storch, der nach Süden blickt, hoch oben, rosafarben in der Sonne glänzend, über dem Reiterstandbild König Chlodwigs.

          Es ist Zeit, denke ich, Straßburg wieder zu verlassen, die Stadt, in der vor 120 Jahren mein Urgroßvater geboren wurde. Ich frage mich, ob jetzt, am Abend, die Störche noch immer auf dem Kirchturm von Bodersweier stehen, gegenüber, outre-Rhin. Nun, ich werde es gleich sehen. Das Rheintal ist ein Vogelparadies, und wie das Münster beweist, war es vor 700 Jahren nicht anders.

 

 

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