Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XXX. Das Südportal der Westfassade

 

Traditionell ist das Südportal der Fassadenseite der eigentliche Haupteingang einer Kathedrale. Dies gilt auch für das Straßburger Münster, das wir durch diese Tür bereits mehrmals betreten und wieder verlassen haben - denn das Mittelportal der Kirche ist natürlich so gut wie immer verschlossen. Bekanntlich führt ja auch nicht der breite, bequeme Weg zu Gott, sondern der beschwerliche Pfad und die schmale Pforte.

          Entsprechend der Leserichtung der Bilderfolge in den Reliefen der drei Tympana stellt dasjenige des Südportals das Ende der Geschichte Jesu' dar, die uns in den Evangelien erzählt wird. Gemeint ist damit natürlich nicht der Tod Christi oder dessen Auferstehung, sondern das Jüngste Gericht, das der christliche Mensch am Ende der Zeiten erwartet, oder besser gesagt, das ihn erwartet. Das unterste der drei Register zeigt uns also, wie die Menschen am Tag des Gerichts, im Beisein von Engeln, aus ihren Gräbern steigen. Im Register darüber findet die Scheidung der Erlösten von den Verdammten statt. Letztere werden von den Engeln erbarmungslos und bar ihrer Kleider in den Höllenschlund gestoßen, der als riesiges, geöffnetes Maul am rechten Bildrand sinnfällig gemacht ist.

          Im schmalen und dafür etwas höheren Register ganz oben erblicken wir Christus als Weltenrichter, seine Wundmale als Legitimation vorweisend, flankiert von zwei Engeln, die die Leidenswerkzeuge in Händen halten, das Kreuz und die Dornenkrone. Ganz außen finden sich zwei weiteren, in ihre nach unten gerichteten Posaunen stoßende Engel. Wir haben hier also eine eher konventionelle Gerichtsdarstellung vor uns, die sich anschaulich mit der wesentlich progressiveren und darüber hinaus viel älteren am Engelspfeiler des Südquerhauses vergleichen läßt.

          In den vier Archivolten des Südportals sind wiederum Engel und Heilige übereinandergestellt, wobei auch hier die Oberseiten der Baldachine jeweils als Sockel für die nächsthöhere Figur dienen. Im Gegensatz zum Nordportal nehmen die Engel aber hier die beiden äußeren Bogenläufe ein.

      Spiegelbildlich zum Nordportal präsentiert auch das Gewändeprogramm des Südportals nicht eine Folge von Heiligen, sondern erneut ein Thema aus dem Bereich der Moral. Aber genau wie auf der gegenüberliegenden Fassadenseite machen es die Baumeister dem in die Kirche eintretenden Betrachter nicht leicht, sich auf die allegorische Aussage des Themas zu konzentrieren, selbst wenn diese durch das behandelte Gleichnis so eindeutig ist, wie es eine Inschrift wäre, die mit den Worten des Evangelisten Matthäus gemahnte: "Darum seid wachsam, denn ihr wißt nicht, an welchem Tag euer Herr kommen wird."

          Wer kennt es nicht, das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen? Da machen sich zehn Jungfrauen auf den Weg, um ihren Bräutigam abzuholen. Fünf von ihnen, die klugen, nehmen nicht nur ihre Öllampen, sondern auch zusätzliches Öl zum Nachfüllen mit. Die anderen, törichten fünf dagegen nur ihre Lampen. Natürlich dauerte es eine Weile, bis der Bräutigam kommt. Als es endlich so weit ist, haben die törichten jungen Frauen kein Öl mehr und müssen in der Dunkelheit zurückbleiben. Nur die klugen fünf, deren Licht noch immer brennt, erreichen den Bräutigam rechtzeitig und werden von ihm empfangen; die übrigen will er, als auch sie schließlich eintreffen, nicht mehr kennen.

          Wem das Gleichnis nicht mehr so geläufig ist, der wird es umso besser in Erinnerung behalten, wenn er sich aufmerksam das Südportal des Straßburger Münsters angesehen hat - gilt es doch als die bemerkenswerteste Darstellung dieses Themas in der christlichen Architektur überhaupt.

          "Was machen wir nur mit dem zwölften Platz im Gewände?", werden sich die Münsterbaumeister, mehr aber noch die Theologen sogleich gefragt haben, die das Bildprogramm zu entwerfen hatten, als die Idee entstand, dieses Gleichnis am Südportal zur Darstellung zu bringen. Den zehn Jungfrauen konnte man figürlich ihren Bräutigam, also natürlich Christus, hinzufügen. Aber die zwölfte Stelle im Portalgewände ließ das Gleichnis des Matthäus unausweichlich leer.

           Was die Weise der Anordnung des Figurenprogramms anging, so war der Bräutigam natürlich den fünf klugen Jungfern zuzuordnen, und dem dualistischen Grundgedanken der Parabel gemäß bot es sich an, alle sechs Personen auf eine, sozusagen die "gute" Seite des Portals zu stellen. Ihnen gegenüber mußten also die fünf unklugen Jungfrauen ihren Platz einnehmen. Es blieb eine Stelle auf der "schlechten" Seite, neben den dummen Jungfrauen frei. Aber für wen?

          Vielleicht - der genaue geistige Entstehungsgang des Portalgewändes ist natürlich nicht bekannt - traf es sich, daß gerade zu der Zeit, als die Straßburger Münsterbaumeister, zusammen mit den ikonographischen Theologen, über den leeren Platz im Gewände des Südportals brüteten und sich so recht kein Ergebnis einstellen wollte, der Dichter Konrad von Würzburg wieder einmal in der Reichsstadt am Oberrhein vorbeischauen kam. Dieser hatte nämlich einige Jahre zuvor, gegen 1260, einen novellenartig kurzen Epos verfaßt, der, in Versen gereimt, den Titel Der Welt Lohn trug und unterdessen einige Berühmtheit erlangt hatte. Konrad konnte nicht ahnen, daß er mit seinem Opus den Anstoß zu einer Kathedralskulptur geben würde, die die markanteste des Straßburger Münsters werden sollte.

          Die Frau Welt war dem Protagonisten aus Der Welt Lohn erschienen, zu nächtlicher Stunde und unerwartet, inmitten seiner Arbeit an einer Minnedichtung, und hatte sich ihm als eine Frau offenbart, deren Schönheit noch diejenige der Venus übertraf. Was sie von ihm wolle, fragte der Dichter, verdutzt und entrückt zugleich. Sie wolle ihm seinen Lohn geben, für den Dienst, den er ihr sein Leben lang erwiesen habe, antwortete die Schöne. Dabei dreht sie sich um, und läßt den Dichter ihren Rücken sehen, der von Kröten, Schlangen, Fliegen und Ameisen behangen ist und sich im Zustand fortgeschrittener Verwesung befindet. Entsetzt begreift der Minnedichter, welches "der Welt Lohn" ist. Er verläßt Frau und Kind und bricht, zum Zeichen seiner fortan nur noch der Religion geweihten Gesinnung, zu einem Kreuzzug auf.

          Die äußerste Position auf der linken Seite des Gewändes (vom Betrachter aus gesehen) wird von einer Figur eingenommen, die allgemein als Fürst der Welt bekannt ist. Mit dem kecken Selbstbewußtsein eines frischgebackenen Jurastudenten steht er da, kerzengerade, die Krone auf dem perückenhaft gekämmten Haar, mit spitzen Schuhen und in edlem Gewande, in das er mit seiner linken Hand hineingreift, auf der Höhe der Brust, wie um sich daran festzuhalten. Mit der rechten hält er einen Apfel vor sich, den er, verschmitzt grinsend, betrachtet. Rechts neben ihm stehen drei der fünf törichten Jungfrauen. Ihre Lampen haben sie achtlos nach unten gerichtet, offenbar sind die Lichter schon ausgegangen. Ihre Körper sind extrem verwunden, der Blick der beiden rechten ist wirr und wie nach innen gerichtet. Insbesondere aber die direkt neben dem Fürsten der Welt stehende Jungfrau hat seit allen Zeiten das Schmunzeln der Betrachter hervorgerufen. Ihr ist die Lampe bereits völlig entglitten, sie liegt als Haufen von Tonscherben zu ihren Füßen. Dafür sieht sie den Fürsten mit einem Blick an, in dem das Entzücken den Platz des Verstandes eingenommen zu haben scheint. Kokett schiebt sie die Hüften in Richtung zum Fürsten der Welt vor, wobei sich ihr Oberkörper zur entgegengesetzten Seite zurückneigt. Zusätzlich hält sie den Kopf so schrägt, daß sie eigentlich kein realistisches Bild der Wirklichkeit mehr empfangen kann. Mit ihren Händen nestelt sie an ihrem Gewande.

          Was diese besonders törichte Jungfrau nicht sieht, offenbart sich dem Betrachter, der um den Fürsten der Welt, exponiert an der äußeren Ecke des Gewändes stehend, herumgeht. Da ist der Rücken von Salamandern, fetten Kröten und aalig umeinandergewikelten Schlangen zerfressen.

          Auf der anderen, der "guten" Gewändeseite nun steht ganz innen der Christus-Bräutigam. Wir sehen einen älteren Mann von lehrerhafter Ausstrahlung, mit kurzgeschnittenem Vollbart und einer kleinen, in die Stirnglatze gekämmten Locke. Vom sinnlichen, körperlichen Leben hat er sich abgewandt und scheint er bereits gänzlich entfremdet. So sind seine Mundwinkel nach unten gezogen, seine Miene strahlt etwas Säuerliches aus. Wie ein Schlafwandler streckt er den rechts von ihm stehenden klugen Jungfrauen zwei segnende Finger entgegen, ohne sie dabei anzusehen, ohne zu ihnen in eine irgendwie geartete persönlichere Beziehung treten zu wollen.

          Einzig in den Gesichtszügen einigen der klugen Jungfrauen, deren schmächtige Körper in dicke Mäntel eingewickelt sind und die auch ihre Köpfe bedeckt haben, kann man so etwas wie entspannte Schönheit entdecken. Sie tragen ihre Lampen aufrecht. Ganz entsprechend dem Aufbau der anderen Gewändeseite ist es nur die unmittelbar neben dem Bräutigam stehende Jungfrau, die diesen ansieht, während die Blicke der anderen beiden nach innen gerichtet sind.

          Im Gegensatz zu den anderen beiden Portalen sind die über Eck gestellten Sockel der Gewändefiguren des Südportals der Westfassade auf ihren beiden Schauseiten mit Reliefs geschmückt: sie zeigen jeweils auf der linken Seite ein Tierkreiszeichen und auf der rechten ein Monatsbild. Von links nach rechts ergibt sich über die zwölf Sockel hinweg ein ganzer Jahreszyklus. Der Fürst der Welt kommt dabei auf einer winterlichen, dunklen, der Christus-Bräutigam dagegen auf einer sommerlichen, hellen Jahreszeit zu stehen, was natürlich nicht ohne symbolische Bedeutung ist.

          Mindestens die linke Seite dieses Portalgewändes trägt eindeutig humoristische Züge. Wenn dies für die rechte Seite nicht zutrifft, so bleibt doch der Ausdruck des Christus-Bräutigams manchem heutigen Betrachter zumindest rätselhaft. Welch einen Unterschied zeigt er etwa zu der Christusfigur im Tympanon des südlichen Querhausportals! Welche Distanz in der figürlichen Auffassung aber auch zwischen den fast körperlosen klugen Jungfrauen einerseits und der Ekklesia des südlichen Querhausportals andererseits, deren Körperumrisse unter dem dünnen Gewand plastisch und geradezu "freimütig" hervortreten. Es scheint fast, als ob die Darstellung körperlicher Reize im ausgehenden 13. Jahrhundert allein noch den törichten Jungfrauen und den linkisch-verkrampften Tugenden ansteht.

 

 

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