Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                          Meditationen über Topographie und Geschichte

II. Gründung, Lage und Wechselfälle des Dorfes Gutingi

 

II.1. Ein Reihengräberfeld

 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte man bei Erdarbeiten in ei- nem Viertel etwas nördlich der Göttinger Altstadt mehrere von Ost nach West ausgerichtete menschliche Gräber sowie das Grab eines Pferdes. Anhand der Grabbeigaben ließ sich annehmen, daß es sich bei diesem Fund um ein sogenanntes Reihengräberfeld aus dem 8. nachchrist- lichen Jahrhundert handelt, wie es bereits an verschiedenen anderen Stellen im weiteren Umkreis Göttingens ausgegraben worden war. Dieses Gräberfeld stellt bis heute den frühesten Fund dar, der von einer dörflichen Siedlung im Bereich der heutigen Göttinger Altstadt zeugt. Zeitlich fällt dieser Fund etwa in die Epochenwende von der Herrschaft der fränkischen Merowinger (merowingisches Großreich seit Beginn des 6. Jahrhunderts) zu derjenigen der Karolinger (Machtübernahme im Jahre 751 durch Pippin, den Sohn des merowingischen Hausmeiers und Sarazenen-Bezwingers Karl Martell. Pippin wiederum war der Vater Karls des Großen).

          Wie die anderen, so ist auch das Göttinger Reihengräberfeld typisch gelegen, nämlich etwas oberhalb, also östliche der ihm zuge- hörigen dörflichen Siedlung. Diese selbst läßt sich durch verschiedene Funde aus dem 10. Jahrhundert genauer lokalisieren, nämlich ihrerseits etwas östlich, also oberhalb des heutigen Zentrum der Göttinger Alt- stadt (mit dem Marktplatz als Mittelpunkt), etwa im Bereich der heutigen St. Albani-Kirche. Aufgrund der nachgeordneten Stellung, die diese Kirche in der hierarchischen kirchlichen Organisation des Göttinger Raumes innehat, kann angenommen werden, daß dieses erste Dorf im Bereich der Göttinger Altstadt unbedeutender, also wahrscheinlich auch jünger war als beispielsweise das benachbarte Dorf Geismar, das seinerseits heute als ein am Rande gelegener Stadtteil zu Göttingen eingemeindet ist.

          Erst zwei Jahrhunderte nach der Anlage des Reihengräberfelds taucht die frühe Göttinger Siedlung zum ersten Mal in einer schriftlichen Quelle auf: im Jahre 953 als das Dorf Gutingi, das der späteren Stadt ihren Namen geben sollte. Der wahrscheinlich bereits im 8. Jahrhundert geprägte Name des Dorfes geht auf den Bach Gote zurück und bedeu- tet so viel wie „das an der Gote gelegene Dorf“. Dieser Bach besteht noch heute, wenn auch unter der Bezeichnung Leinekanal. Sein ur- sprünglicher Name und Verlauf läßt sich anhand alter schriftlicher Quel- len bestimmen, und noch heute gibt es in Göttingen den Straßen- namen In der Goten.

          Sowohl die Autobahn A7 als auch die ICE-Trasse von Hannover nach Kassel nutzen heute das Leinetal als überregionale Verkehrs- achse. Doch schon seit dem frühen Mittelalter verlief hier eine der wichtigsten Nord-Süd-Verkehrsverbindungen Deutschlands. Die östli- che Leinetalstraße, etwas oberhalb der Leinetalniederungen verlau- fend, am Fuße des Göttinger Walds entlang, daher als Helleweg bezeichnet (helle = Hang), führte direkt durch das Dorf Gutingi. Man kann annehmen, daß sich die Siedlung gezielt an der bereits vorher existierenden Königs- und Handelsstraße entwickelt hat, und zwar genau an der Stelle, wo diese Straße die Gote überquerte. Der Schnittpunkt von Weg und Bach lag genau in der Mitte des Dorfes Gutingi. Noch heute trägt ein Rad- und Fußweg, der von Weende aus nördlich an Bovenden vorbei durch die am Hang gelegenen Felder führt, den Namen Helleweg. Und im Stadtbereich von Göttingen selbst markieren der Friedländer Weg, die Geismar Landstraße und die Hauptstraße (in Geismar) noch den alten Verlauf dieser einstigen Handelsstraße.

          Sicherlich war seine Lage an der Gote, einem unbedeutenden Bach, nicht maßgeblich für den späteren Aufstieg dieses Dorfes zu einer die ganze Region bestimmenden Stadt. Das vergleichsweise jun- ge Dorf hatte jedoch den Vorteil einer zentralen Lage in einem bereits vorher existierenden und weitgehend geschlossenen Siedlungsraum. Denkt man an die drei Gutingi umgebenden, dabei deutlich älteren Dörfer Grone, Weende und Geismar (heute allesamt Stadtteile von Göttingen, aber jeweils noch mit deutlich erkennbarem altem Dorfkern), so befand sich Gutingi im Herzen eines Wirtschaftsraums, dessen verkehrs- und handelsgünstige Lage neben der genannten Nord-Süd-Verbindung noch durch eine Leinefurt und die an ihr zusammen- treffenden Fernwege aus Westfalen und Thüringen bestimmt wurde. Auch politische Bedeutung hatte dieser Raum, und zwar durch die Burg Grona des mächtigen sächsischen Geschlechts der Liudolfinger, aus dem nicht nur sächsische Herzöge, sondern später auch die sächsischen Könige und Kaiser hervorgingen. Grona wurde Königs- und dann Kaiserpfalz und erlangte nationale Bedeutung. Gutingi selbst allerdings stand noch bis ins 12. Jahrhundert im Schatten seiner drei größeren Nachbardörfer.

          Gutingi und die spätere Stadt lag in einer über Jahrhunderte im- mer unruhigen Grenzlage, die zwar zur Zeit der Welfen den explosi- onsartigen Aufstieg der Stadt begünstigte, später aber, im Dreißig- jährigen Krieg, für Göttingen verhängnisvoll werden sollte und es wie- der zu einer reinen Agrarstadt herabsinken ließ. Es handelte sich um das Dreiländereck der germanischen Stämme der Thüringer (im Osten), der Sachsen (im Norden und Westen) und der Franken (im Süden). Es läßt sich heute nicht einmal sagen, auf welche der drei Volksgruppen die Gründung des Dorfes eigentlich zurückgeht. Etwa um das Jahr 720 ging die Herrschaft über den Göttinger Raum von den Thüringern auf die Sachsen über. Bei ihnen verblieb sie im Weiteren auch, trotz der folgenden jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zwischen Franken und Sachsen, im Rahmen der Bemühungen Karls des Großen um die Unterwerfung des damals noch heidnischen Nachbarstamms und dessen Eingliederung in das karolingische Großreich (Sachsenkriege 772-804). Der wechselvolle Verlauf dieser Kriege dürfte für das kleine Dorf Gutingi und seine Umgebung wiederholte Veränderungen der Herrschaftsverhältnisse bedeutet haben, was sicherlich jeweils mit empfindlichen Störungen des regionalen Friedens verbunden war.

 

 

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