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Roland Salz                                                                      
                                          Meditationen über Topographie und Geschichte

Altes Rathaus Göttingen

Altes Rathaus Göttingen MA

Bild: © Roland Salz 2014

I.5. Das Alte Rathaus

 

Der Baubeginn des Alten Rathauses, der auf das Jahr 1270 datiert wird, einer Zeit also, in der man im Kampfe noch mit schweren Eisen- schwertern auf den Topfhelm des Gegners losging, einer Zeit aber auch, in der, von tiefem religiösen Empfinden getragen, überall in Europa riesige, im Innern leuchtend farbige und lichtdurchflutete Kathe- dralen aus dem Boden wuchsen, macht es zu einem der ältesten Rathäuser Deutschlands.

          Anders als in manchen Bischofsstädten, als in Würzburg zum Beispiel, wo sich das Rathaus unter lauter riesenhaften, alle anderen Gebäude gewaltsam niederdrückenden Domen, domartigen Kirchen und weitläufigen Klosterkomplexen kaum auffinden läßt, ist das Alte Rathaus zu Göttingen nicht nur das dominierende Bauwerk am Markt- platz, sondern – durch dessen zentrale Lage im Altstadtkreis und seine herausragende Bedeutung für den Wohlstand und das Selbstgefühl seiner Bürger – der ganzen Stadt; und mehr noch: die Auswirkungen der in seinen Mauern getroffenen Entscheidungen reichten im Mittel- alter – „urbis et orbis“ – über die Grenzen der Stadtbefestigung weit in das Umland hinaus. Siebenhundert Jahre lang wurden vom Alten Rathaus aus die Geschicke der Stadt gelenkt. Und so zeigt sich das Alte Rathaus dem auf dem Marktplatz stehenden Fremden mit dem großflächigen Antlitz eines mittelalterlichen Erfolgsmenschen (man denke etwa an jene markigen Gesichter aus der Verfilmung Jean-Jacques Annauds von Umberto Ecos Roman Der Name der Rose), der, ob er nun Handwerksmeister, einflußreicher Händler oder gar Stadtrat war, sich in jedem Fall viele Male in Auseinandersetzungen und Kämpfen hat durchsetzen müssen, und der es nicht nötig hat, sich schön zu machen, zu schminken, sondern der selbstbewußt zu den Spuren steht, die das lange und gefährliche Leben in seinem Antlitz hinterlassen hat, als Sammlung von Narben und anderen Unregel- mäßigkeiten. Und wie bei solchen Menschen dauert es eine Weile, bis man die Mimik in den entstellten Zügen deuten und den inneren Re- gungen richtig zuordnen kann. Der mittelalterliche, gotische Charakter des Alten Rathauses hat sich, unbeschadet durch einige kleinere Veränderungen, die an dem Gebäude in den letzten hundert Jahren vorgenommen wurden, bis heute fast vollständig erhalten.

 

 

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