Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                          Meditationen über Topographie und Geschichte

St. Marienkirche und Kommende des Deutschritterordens Göttingen

St Marienkirche und Kommende des Deutschritterordens Göttingen

Bild: © Roland Salz 2014

IV.4. Die Stadt entledigt sich ihres Herrn

 

Doch schon bald erkannten die Mitglieder der reichen Kaufmannsgilde, die als Patrizier allein im Stadtrat vertreten waren und die Geschicke der Stadt bestimmten, daß sie als die Handel Treibenden, als diejeni- gen, die das Geld in die Stadt brachten und besaßen, die eigentlich Macht hatten, und nicht der Stadtherr oder die vielen anderen, klei- neren, in der Umgebung Göttingens verstreuten Adligen, oder auch die ebenfalls auf viel Grundeigentum sitzenden Kirchen, Klöster oder Reichsministerialen. Kurzum: sie erkannten die auch politische Macht des Geldes, das übrigens um diese Zeit aufkam – nach dem Vorbild der Städte in Oberitalien – und den bisherigen Naturalienhandel bald vollständig ersetzte.

          Zugute kam ihnen, daß der Adel – und ebenso der Klerus – seine Kräfte in unzähligen Fehden verschwendete, die in immer neuen Erb- streitigkeiten ihren Ausgang nahmen. Einerseits waren diese Fehden zwar dem Handel abträglich, schufen sie doch Unsicherheiten auf den Handelswegen, wenn nicht sogar Krieg; andererseits führten diese kostspieligen Streitereien zu einer chronischen Geldnot des Adels, den sich die wirtschaftlich starke Stadt geschickt zunutze machen konnte, um ihre Interessen zu verfolgen.

          Vorerst zogen Stadt und Stadtherr noch immer an einem Strang. Einträchtig gingen sie gegen Ende des 13. Jahrhunderts daran, alles, was ihnen im Göttinger Umland als Störfaktor erschien, auszuschalten. Systematisch machten Göttinger Milizen oder die Truppen des Wel- fenherzogs Albrecht des Feisten, eines Sohns Albrechts des Langen, dem Erdboden gleich, was sich im Umland militärisch befestigt hatte: 1294 die Feste Harste der Herren von Rosdorf; 1295 die königliche Pfalz Grona; 1297 die Burg Berlevessen westlich von Friedland; 1312 ein befestigtes Haus der Herren von Hilkerode in Waake; 1319 die Burg Rosdorf.

          Vor allem durch den Handel mit qualitativ hochwertigen Tüchern bis hinauf nach Skandinavien erlangte die Stadt immer größeren Reichtum. Bald schon war es nicht mehr nötig, militärische Gewalt ein- zusetzen, um den lokalen Adel im Umland zu schwächen. Es gab einen einfacheren Weg: die Stadt kaufte ihn aus, erwarb von allen Seiten Ländereien und Rechte, entweder als festen Besitz oder als Pfand. Bald gehörten ein Großteil der Güter des Göttinger Umlands und selbst einige Dörfer der Stadt. Auch der Stadtherr selbst wurde von dieser Praxis des Auskaufens nicht ausgenommen: immer öfter sah er sich sogar gezwungen, das Amt des Schultheißen, des Vorstehers des städtischen Gerichts, an den Rat zu verpfändeten, so daß die Stadt auch die so wichtige Gerichtsbarkeit im Innern unter ihre Kontrolle bringen und damit die Selbstverwaltung entscheidend stärken konnte.

          Im 14. Jahrhundert war nur mehr der Stadtherr selbst als ernst- zunehmender Widersacher der Stadt übriggeblieben. Albrecht der Feiste erkannte die Gefahr, die für die welfischen Herrscher daraus erwuchs, daß die Stadt mit den ihr einmal verbrieften Rechten allzu selbstbewußt ihre Eigeninteressen verfolgte und sich immer weniger für die Zwecke des Landes- und Stadtherren instrumentalisieren ließ, wie es eigentlich der Plan gewesen war. Er versuchte gegenzusteuern. Nachdem schon seit 1268 die Franziskaner ein Kloster innerhalb der Stadtmauern errichtet hatten, gestattete Albrecht 1294 dies auch den Dominikanern. Und in den Jahren 1303 und 1305 ließ er die Zisterzi- enser des Klosters Walkenried bei Bad Sachsa zusätzlich zwei Wirt- schaftshöfe in Göttingen errichten. Damit hoffte Albrecht ein Gegenge- wicht zu der Macht des Rates zu schaffen. Denn die Klöster, die Steuerfreiheit genossen, entfalteten eine rege wirtschaftliche Tätigkeit in Konkurrenz zu den Bürgern. Sie schwächten die Stadt aber auch dadurch, daß sie innerhalb der engen Stadtummauerung große Grundareale beanspruchten, und daß ihre Mitglieder nicht zur Verteidi- gung der Stadt herangezogen werden konnten.

          Noch eine weitere Maßnahme sollte das Wachstum Göttingens bremsen. Direkt vor den Toren, zwischen Stadt und Leinefurt, gründete Albrecht auf eigenem, herzoglichem Boden 1293 die sogenannte Neu- stadt. Aber wenn Albrecht den Göttingern auf diese Weise einerseits städtische, d.h. wirtschaftliche und politische Konkurrenz verschaffen, ihr andererseits die Möglichkeit einer weiteren räumlichen Ausdehnung nehmen wollte, so schlugen die Göttinger umgehend zurück: unmittel- bar hinter der Neustadt, auf der Göttingen gegenüberliegenden Seite, begannen sie noch im selben Jahr mit der Errichtung eines Hospitals als bürgerlicher Stiftung. Damit war der Neustadt selbst der Weg zur weiteren Ausdehnung abgeschnitten. Zwar setzte Albrechts Sohn und Nachfolger, Otto der Milde, die Politik seines Vaters zuerst fort, indem er 1319 dem Deutschritterorden die Gründung eines Hofes südlich der Neustadt gestattete. Noch im selben Jahr jedoch mußte er kapitulieren: gegen Zahlung von 300 Mark lötigen Silbers verkauft er die Neustadt an den Göttinger Rat. Zusätzlich mußte er sich diesem gegenüber ver- pflichten, den Orden in Stadt und Umland keine weiteren Erwerbungen mehr zu erlauben.

          Während der Regierungszeit Ottos des Quaden (d.h. des Bösen), eines Neffen Ottos des Milden, kommt es schließlich zum offenen Konflikt zwischen Stadtherr und Stadt. Nachdem sich diese, die schon seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts ihre eigene Außenpolitik betrieb, über den Kopf des Stadt- und Landesherrn hinweg mittels diverser Schutzabkommen, unter anderem mit den Landgrafen von Hessen, mit anderen Städten im welfischen Raum, ja sogar mit Herzogen anderer welfischer Linien, mit denen Otto der Quade selbst im Streit lag, den Rücken freigemacht hatte, legten sie 1387 die in der Stadt gelegene herzogliche Burg bolruz nieder und zwangen ihn damit aus der Stadt. Otto der Quade hatte es zu Lebzeiten geschafft, sich beinahe überall unbeliebt zu machen. Jahrzehnte hatte er mit dem Versuch zugebracht, welfische oder hessische Erbschaften, die er für sich beanspruchte, an sich zu bringen, sei es durch ausgeklügelte Bündnispolitik, sei es aber auch mittels kriegerischer Gewalt, letztlich aber immer ohne Erfolg.

          Im ganzen welfischen Raum hatte der Erbfolgekrieg die Städte erstarken lassen. Auch in Lüneburg, Hannover und sogar in Braun- schweig mußten die welfischen Herzöge ihre Burgen aufgeben. Der letzte welfische Herrscher der Göttinger Linie, Otto der Einäugige, Sohn Ottos des Quaden, stellte am 15. Juli 1435 seine Abdankungsurkunde aus und übertrug die Amtsgeschäfte auf eine ständische Verwaltung, der auch Vertreter der Städte und somit Göttingens angehörten. Göttin- ger Stadträte hatten auf diese Weise unmittelbar an der Regierung des Landes teil.

 

 

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