Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

IX. Der Wohnraum (Teil 2: versteckte Strukturen)

 

Wie aber, so fragt man sich, ist die Öffnung zur Treppe im Boden und somit zum Bach verschließbar? Wie ist der Übergang von innen nach außen an diesem nicht gerade gewöhnlichen Punkt architektonisch gelöst? Man mache sich nur einmal bewußt, wieviel Feuchtigkeit, wieviel (etwa im Winter!) dumpfe, klamme Luft über dem sprudelnden, spritzenden, unter dem Haus entlanglaufenden Bach, ganz zu schweigen von dem Wasserfall, ständig in den Innenraum des Hauses drängt.

          Und überhaupt diese Treppe, die gegen die Strömungsrichtung des Baches nach unten führt bis unmittelbar über Wasserhöhe... Natürlich gab es ihn einmal, an einem Wochenendnachmittag im Au- gust 1956, jenen sintflutartigen Regen, der den Bach abrupt anschwel- len ließ, so daß die Treppe wie eine große Gabel das in Mengen mitgespülte Treibholz aufhäufte und das Wasser darüber hinweg treppaufwärts ins Wohnzimmer schoß. Jeder, der schon einmal miter- lebt hat, wie ein unscheinbarer Bergbach innerhalb von wenigen Stun- den zu einem reißenden Strom anschwillt, der Bäume, Autos, ja Häu- ser mitreißen kann, wird sich die Situation vorstellen können. “Der Boach kimmt!”, rufen die Tiroler in einem solchen Fall aus. Kein Wunder also, daß die kühnen Ideen des Architekten während der Planungs- und Bauzeit mit den eher praktischen Erwägungen und Notwendigkeiten des Bauherrn auf so drastische Weise aneinandergeraten mußten.

          Immerhin: das Haus und sogar die Treppe hielten der Flut stand. Letztere aber nur, weil ihre untere Plattform und damit die Treppe selbst aufgrund vorangegangener Erfahrungen kurz zuvor mit Stahlfüßen im Felsbett des Baches verankert worden war, der Architekt den ganz frei- schwebenden Charakter des Zugangs zum Bach also schließlich aufge- geben hatte.

          Die Treppe zum Bach ist gegen das Wohnzimmer (bzw. auf der Südseite gegen die Terrasse) durch Betonbrüstungen abgegrenzt, die den Außenbrüstungen der Terrassen gleichen, also oben abgerundet sind. Über die Treppe ist ein flaches, nur einen halben Meter hohes Glashaus mit rot gestrichenem Stahlrahmen gestellt. Es läßt sich ähnlich wie ein Kajüteneingang öffnen: zwei niedrige Glastürchen am Anfangspunkt der Treppe schwenken nach vorn ins Wohnzimmer, sodann kann man einen Teil der oberen Glasabdeckung nach hinten übereinanderschieben. Nun läßt sich der Bach unmittelbar aus dem Zimmer mit den Sinnen vernehmen, oder man kann gänzlich zu ihm hinuntersteigen.

          Der gesamte, multifunktionale Wohnraum zerfällt grob in zwei Hälften: eine hintere, nördliche, von fast völlig fensterlosen Mauern umgeben, dunkel, dafür geschützt, mit der Feuerstelle als ihrem ideel- len Zentrum. Diese Hälfte ist im ersten Stock von den Schlafräumen überbaut. Und in eine vordere, südliche Hälfte, ganz von Fensterfron- ten eingefaßt, mit den vorgelagerten beiden Terrassen, zum guten Teil freischwebend über dem Bach. Das symbolische Zentrum dieser hellen, dafür aber ungeschützten, den Kräften der Natur preisgegebenen Raumhälfte ist die Treppe zum Bach, diagonal der Feuerstelle gegen- über gelegen. Und hier, im Südosten des Wohnraumes, wird der offene Eindruck noch dramatischer: auch die Decke wird jetzt lichtdurchlässig. Ein rechteckiger Streifen, der sich von der Studierecke im südlichen Teil des östlichen Seitenbereiches des Raumes über die unter dem flachen Glashaus gelegenen Bachtreppe und weiter bis über den Südrand der vorderen Ostterrasse hinaus erstreckt, ist nicht von einer Betondecke überfangen, sondern von einem Betonbalkengitter ähnlich demjenigen, das den Weg zum Eingang des Hauses übergreift. Dieses Gitter, das östlich neben der zentralen Terrasse des ersten Stocks liegt und hierin verankert ist, ist über dem Wohnteil (einschließlich dem Bachzugang) zwischen den Balken verglast, im südlich gelegenen Terrassenteil jedoch offen. So ergibt sich ein fließender Übergang vom umbauten Raum zur offenen Terrasse, mit einer ganzen Anzahl von Zwischen- stufen: stark geschützter hinterer, nördlicher Wohnraum -> hellerer Raum im südlichen Bereich, aber noch mit geschlossener Decke -> noch hellerer Innenraum im Südosten, mit teilweise verglaster Decke ->  vordere Ostterrasse, durch Balkengitter im Teilschatten gelegen -> äußerer, jetzt ganz offener Bereich der Ostterrasse.

          Der beschriebene Übergang entspricht einem Verlauf diagonal durch den Wohnraum, von der Feuerstelle im Nordwesten bis zur Bachtreppe im Südosten. Diese Raumdiagonale wird von Frank Lloyd Wright noch besonders betont: während ansonsten im Grundriß des ganzen Hauses nur geradlinige und rechtwinklig zueinander stehende Mauerpartien zu finden sind, weisen sowohl der Kamin als auch die Bachtreppe apsisartige, nach außen gewölbte Rundformen auf, die die Diagonale wie eine Klammer umschließen: einerseits hat der Kamin eine halbkreisförmige Rückwand, andererseits läuft die Brüstung um die Bachtreppenöffnung hinten halbkreisförmig um diese herum.

          Das Balkengitter spendet einen Halbschatten ähnlich demjenigen der hohen, aber etwas vereinzelt stehenden Eichen des umgebenden Waldes. Und auf der Innenseite des äußeren Rahmens sind kleine Lämpchen eingelassen, die mit ihren fünfeckigen Umrissen die Form der in der Sonne blinkenden Blätter abstrahieren.

          Die gesamte südliche Raumhälfte wird von den einheitlich beige gestrichenen Betonbrüstungen umgeben: den Geländern der beiden Terrassen, der Einfassung der Bachtreppe und der Außenwände unter den Fenstern, hinter der südlichen und der westlichen Sitzgruppe. Alle übrigen Wandpartien sind verglast, die Trennung von innen und außen wird weitestmöglich aufgehoben. Zur östlichen Terrasse führt hinter der Bachtreppe eine Doppelglastür, ebenso von der Studierecke nördlich der Bachtreppe aus. Zur Westterrasse, die ganz von einer hier aufge- stellten Bodhisattva-Büste geprägt wird, auf die der Blick des Besu- chers schon fällt, wenn er am diagonal entgegengesetzten Ende den Wohnraum vom Vestibül aus betritt, öffnet sich eine Vierfachglastür. Die Stahlrahmen der Fenster hinter den Sitzgruppen und südlich der Bachtreppe sind auf verschiedenste Weise unterteilt, horizontale und vertikale Strukturen wechseln sich ab. Auffällig ist eine Formation aus drei parallelen Stahlsprossen am oberen Rand des Fensters hinter der westlichen Sitzgruppe. Während die oberste zum Rahmen des Fensters gehört, entpuppen sich die beiden unteren bei genauerer Betrachtung als direkt vor der Scheibe befindliche, am Fenster montierte Regale. Kleine Gefäße aus buntem Glas sind hier postiert und heben sich vor dem Himmel ab. Diese Struktur greift in den Innenraum hinein: auf der linken Seite krallen sich Ableger der beiden Regale konvex gerundet in den südwestlichen Freipfeiler; und rechts kommen alle drei Waagrech- ten als Regale genauso konvex gerundet aus der Stirnseite der Kaminwand, werden - wiederum gerundet - zuerst um die Ecke der Kaminmauer herum nach innen geführt, um dann oberhalb des Kamins und über der Küchentür entlang bis zu einem Oberlicht in einer Nische links vom Eßtisch zu laufen, wo sie sich wieder in Fenstersprossen zurückverwandeln. Innen- und Außenraum sind miteinander verklam- mert durch abstrakte Strukturen von so feiner Verästelung, wie es der Bauplan der Natur draußen vormacht.

 

 

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