Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XIII. Natur und Geometrie: Die Vereinigung des Unvereinbaren

 

Frank Lloyd Wright ist in seiner ersten großen Schaffensperiode, die etwa zwischen 1900 und 1925 anzusetzen ist, vor allem durch seine sogenannten Prairie-Häuser bekannt geworden. Es handelt sich dabei um zumeist einzelnstehende, in flache, weite amerikanische Landschaf- ten gestellte Objekte, die die hier dominierenden Horizontalen aufneh- men und sich so an die vorgegebenen Formen anpassen. Fast immer wirken diese Häuser, oder besser gesagt Villen, denn es handelte sich ganz überwiegend um Landhäuser sehr betuchter Klienten, flach und auf den Boden gekauert wie ein Tier, weisen dafür aber eine beacht- liche horizontalen Ausdehnung auf.

          Mit Fallingwater brach Wright scheinbar mit seiner persönlichen Tradition, denn jetzt schuf er ein dreistöckiges, nicht nur horizontal, sondern auch vertikal strukturiertes Gebilde. Aber sehen wir uns das Gelände, in das er dieses Haus gestellt hat, aus etwas größerer Entfernung an, so fällt auf, daß sich diese Architektur genauso wie die Prairie-Häuser demütig in die natürliche Umgebung einfügt. Welcher andere Architekt hätte dieses teure, luxuriöse Landhaus unten in eine Schlucht gestellt, direkt neben den Bach, also an den tiefstmöglichen Punkt? Hätte es der sozialen und finanziellen Stellung seines Auftrag- gebers nicht viel eher entsprochen, das Haus so aufzustellen, daß es einen frontalen Blick auf das Schauspiel des Wasserfalls bietet, oder aber im Gelände erhöht, um dem Auftraggeber einen entspannten Überblick über die umgebende, ganz ihm gehörende Landschaft zu verschaffen? Statt dessen duckt sich das Chalet unter den hohen Eichen in die Bestände des Rhododendrons und Berglorbeers, ist kaum zu sehen und bietet keinen Ausblick zum Horizont.

          Nicht einmal den Bach, mit dem Fallingwater so innig verbunden ist, beherrscht das Haus. Bear Run fließt da, wo er seit Jahrtausenden geflossen ist, in seinen Lauf und in sein natürliches Bett hat Wright nicht eingegriffen. Der Architekt geht ganz nah an ihn heran, lehnt sich über ihn, führt die Treppe vom Wohnzimmer aus bis auf wenige Zentimeter zu ihm herunter, aber er greift nicht verändernd in ihn ein. Deswegen stützen sich die Terrassen auch nicht am anderen Ufer des Baches ab: das hätte bedeutet, den Bach einzuschließen, ihn wie mit einer Zange zu umfassen, ihm von jetzt an seinen Verlauf für alle Zeiten vorzu- schreiben. Deshalb also die architektonische Akrobatik, die Terrassen des Hauses um mehr als sechs Meter über ihren südlichsten Auflage- punkt hinauszuschieben.

          Wright hat keinen neuen Weg als Zufahrt für das Haus angelegt. Er hat das Objekt so plaziert, daß er einen bestehenden Fahrweg der Holzfäller weiterbenutzen konnte. Auch die neue Brücke wurde nicht willkürlich angelegt, sondern genau dort belassen, wo die ursprüngliche Holzbrücke lag, die der alte Weg benutzte. Im Gegenteil, Wright hat das ganze Haus am Verlauf dieser bestehenden Holzbrücke ausgerichtet: seine Hauptachse nach Südosten ist genau zu ihr parallel.

          Überall an Fallingwater erkennen wir, wie wichtig es dem Archi- tekten war, daß sich die Behausung des Menschen der Natur unterord- net, anstatt sie zu dominieren, nach ihrem Gutdünken umzugestalten oder gar zu eliminieren. Am eindrucksvollsten erfährt das der Besucher gleich am Eingang, noch bevor er das Haus betreten hat. Hier stehen zwei große Bäume, die durch das Gitter aus Betonbalken hindurch- wachsen. Die Bäume waren zuerst da, und eigentlich standen sie dem Gitterwerk im Weg. Aber anstatt sie zu fällen hat Wright das Gitter um die bestehenden Bäume herum gebaut: an zwei Stellen krümmen sich die ansonsten linearen Balken zu kleinen Halbkreisen und werden so um die Bäume herumgeführt. Wright ging sogar noch einen Schritt weiter. Auch der westlichen Flügelterrasse standen zwei jüngere Bäume im Weg. Weder wollte Wright aber auch diesen Bäumen etwas antun, noch wollte er auf die für die Gesamtstruktur notwendige Terras- se verzichten; so ließ er den Beton um die beiden Bäume herum gießen, ließ für sie zwei Löcher in der Terrasse, durch die sie hindurch- und weiterwachsen sollten. Leider überlebten die beiden jungen Bäume diese gutgemeinte Prozedur nicht; die Löcher in der Westterrasse erinnern aber noch heute an sie.

          Bis in die Details hinein läßt sich Wright bei der Wahl seiner architektonischen Gestaltungsmotive von der natürlichen Umgebung inspirieren und leiten. All das kann der Besucher schon im Eingangs- bereich des Hauses studieren. Vergleicht er etwa aufmerksam die beiden Seiten des Weges, den natürlichen Felsabhang zur rechten und die Fassade des Hauses zur linken, so entdeckt er Entsprechungen: die zweistöckige Mauer zwischen Weg und Schwimmbecken bzw. östlicher Flügelterrasse ist genauso hoch wie der Felsvorsprung im Norden; die geschichtete und reliefartig-plastische Oberflächenstruktur der aus Sandsteinplatten rustikal gemauerten Wände gleicht derjenigen des infolge von Erosion freiliegenden Fels; die vielfache Staffelung der Nordwand des Hauses spiegelt eine auch in der Felswand erkennbare Staffelung wieder; der deutliche Überhang einiger großer Felsplatten des Abhangs wird von der freischwebenden Anlage des erkerartigen, verglasten nördlichen Flurstückes im ersten Stock des Hauses aufge- nommen; die tiefen Nischen von Loggia und dem über ihr gelegenen, den Gästebereich mit der östlichen Flügelterrasse verbindenden kleinen Freibereich ähneln den dunklen Hohlräumen in der Felswand, und schließlich findet das Wasser, das unaufhörlich zwischen den Felsplat- ten hervorrinnt, seine Entsprechung in dem Wasserstrahl, der neben der Loggia aus der Wand des Hauses hervorquillt und sich in das kleine Bassin rechts vom Eingang ergießt.

          Immer aber wird das in der Natur vorgefundene Motiv durch den ordnenden, strukturierenden Geist des Architekten sozusagen extra- hiert, auf seinen abstrakten Kerngehalt reduziert und dann in der Formensprache der Moderne neu geschaffen. So kann man die bei- den Balkengitter, dasjenige über dem Eingang im Norden und das an- dere über Wohnraum, Bachtreppe und unterer Ostterrasse als ein Echo des Halbschattens verstehen, den die Kronen der hohen, locker um Fallingwater herumstehenden Bäume spenden: rufen sie doch ein ähnliches Wechselspiel aus Licht und Schatten hervor, abhängig von der räumlichen Bewegung des Menschen und der zeitlichen Bewegung der Sonne.

          Bedient sich Wright zwar klarer geometrischer Formen (Gerade, Ebene, Kreisausschnitt) und hat er sich auch auf äußerst wenige, in vielfältigen Variationen immer wiederkehrende Grundmotive beschränkt (etwa die Ausrichtung aller Wandstücke in nur zwei verschiedenen, rechtwinklig zueinander stehenden Achsen), so fehlt doch im Gegenzug - genau wie in der Natur selbst - jedwede Symmetrie.

          Bezeichnend ist auch, daß Fallingwater zwar in die Natur gestellt ist, einen Platz in ihr beansprucht und sich mit ihr verzahnt, aber nicht in ihre Gestaltung selbst eingreift: es gibt keinen angelegten Garten rings um das Haus. Und auch ein zweiter, rückwärtiger Ausgang fehlt dem Haus völlig. Da es keinen Garten gibt, braucht man auch keine Tür, die zu ihm hinführen könnte. Weder die Treppe zum Bach noch die schma- le Stiege hinunter zum Schwimmbecken sind Ausgänge, sie führen beide nur zum Rand des Baches.

          Aber wenn wir sagen, Fallingwater hat keinen Garten, so müssen wir uns doch korrigieren. Denn plötzlich wird klar: die Natur selbst ist der Garten dieses Hauses: alles darum herum, die Felsen, der Bach, der Rhododendron, der Berglorbeer, die hohen Eichen, die Jahreszei- ten, der Himmel!

          Durch die unmittelbare Nähe zum Wildbach mit seinem Wasser- fall ist es in Fallingwater niemals still. Im Gegenteil: bei starker Was- serführung, nach einem Regen etwa oder bei Schneeschmelze, wird der Lärm ohrenbetäubend und allgegenwärtig. Niemand im ganzen Haus kann sich ihm entziehen. Und doch: hatten die Kaufmanns nicht, bevor Fallingwater gebaut war, immer wieder die Nähe zum Wasserfall ge- sucht, hatten sie sich nicht gerade hier, in diesem Getöse, am meisten wohl gefühlt und am besten entspannen können?

          Der Fluß und das Fließen sind seit jeher starke, universell ver- ständliche Symbole in der Kunst, in der Literatur, in der Religion. Die ständige, gleichförmige, immer wiederkehrende Bewegung, der ewige Kreislauf des Lebens, des Werdens und Vergehens, Samsara. Aber wer sich ganz darauf einläßt, so mahnt uns der Bodhisattva, wer sich gerade darauf konzentriert, es schließlich annimmt und bedingungslos damit eins wird, der findet inmitten der Bewegung die Ruhe, inmitten des Vergänglichen das Ewige - Nirwana. Das Haus über dem Was- serfall führt uns ganz nah an diese Erkenntnis heran.

 

 

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