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Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

I. Die Bedeutung von Fallingwater und die Bedeutung des Be- trachtens

 

Fallingwater, der Name, den der Architekt selbst dem von ihm ent- worfenen Ferienhaus für die Familie Kaufmann in den Bergwäldern Pennsylvanias gegeben hat, ist zu einem Inbegriff in der Geschichte der modernen Architektur geworden. Frank Lloyd Wright (1867-1959), im eigenen Land lange Zeit seines Lebens als Außenseiter angesehen, gilt heute mit Abstand als der herausragendste amerikanische Architekt des 20. Jahrhunderts. In seinem überaus fruchtbaren, mehr als sieb- zigjährigen Berufsleben schuf er hunderte von Bauwerken, die vom amerikanischen Lebensgefühl so sehr durchdrungen und geprägt sind, daß sich in ihnen geradezu ein neuer nationaler Architekturstil mani- festiert hat. Aber niemals hielt die Besinnung auf das nationale Erbe den Architekten davon ab, alles zu assimilieren, was an architektoni- schen Ideen der Zeit im Gespräch war. Und so kommt es, daß in den Schöpfungen Frank Lloyd Wrights auch die Moderne, die in Europa ihren Ursprung genommen hatte, ihre charakteristisch amerikanische Ausdrucksweise fand: die Verbindung der abstrakten, geometrischen Form mit dem Element des “Organischen”, ihre Verwurzelung - trotz dieser scheinbaren Widersprüchlichkeit - in Natur und Landschaft. Diese erstaunliche Synthese, die Frank Lloyd Wright gelang, wirkte auf den Alten Kontinent zurück, beeindruckte auch hier und ließ die Bedeutung des Architekten zu einer weltweiten Anerkennung heran- wachsen.

          In hervorstechender, geradezu charismatischer Weise sind die neuen Ideen Frank Lloyd Wrights in jenem Haus über dem Wasserfall verkörpert, Fallingwater, versteckt irgendwo in der kaum berührten Na- tur und Weite der nördlichen Ausläufer der Appalachen, der Allegheny Mountains, und doch durch die markante, vielfach reproduzierte Foto- perspektive so bekannt, daß es kaum einen Architekturstudenten auf der Welt geben dürfte, der von diesem Objekt nicht Notiz genommen hätte. Schon 1938, nur ein Jahr nach seiner Fertigstellung, beein- druckte das Chalet im Eichenwald die Fachwelt so sehr, daß es als Hintergrund für das Portrait seines Schöpfers auf der Titelseite des Time Magazine diente und daß allein diesem Haus eine ganze Aus- stellung im New Yorker Museum of Modern Art gewidmet wurde. Edgar J. Kaufmann, der das Wagnis eingegangen war, mit Frank Lloyd Wright zusammenzuarbeiten, war mit einem Bauwerk belohnt worden, zu des- sen Besuch sich bald einige der größten seiner Zeitgenossen einfinden sollten.

          Architektur will rezipiert, will wahrgenommen und erlebt werden. Als dreidimensionales, körperliches und überlebensgroßes Objekt, das auch von innen begangen werden kann, verlangt das Bauwerk nach mehr als der Kenntnisnahme und Betrachtung von nur einem einzigen Punkt aus, und sei es auch die berühmte, eindrucksvolle Perspektive von unterhalb des Wasserfalls, über dessen weißem Flux die weitaus- ladenden, blendendhellen Terrassen zeitlos zu schweben scheinen. Ohne Zweifel war Frank Lloyd Wright ein Mann nicht nur von großem künstlerischem Genie, sondern auch von spirituellem Tiefgang. Seit frühen Jahren stark beeinflußt von der Kunsttradition Japans, später durch seine dritte Frau Olgivanna Lazovich (einer Schülerin des berühmten Mystikers Georgi Gurdjieff) erneut mit den Essenzen der östlichen Weisheitslehren in Berührung gebracht, war für ihn Architektur weit mehr als die Anwendung baulicher, funktionaler Prinzipien, die Findung interessanter, formabstrakter Ideen oder die Implementierung symbolhafter Analogien oder Allegorien. Wie jeder ernsthafte Künstler sah er in seiner Tätigkeit ganz wesentlich ein Ausdrucksmedium, das gerade in seiner perfekten Ausübung und kreativen Innovation doch immer über sich selbst hinausweist. Das Ziel seiner Aufmerksamkeit liegt im Bauwerk an sich und trotzdem auch "jenseits" von ihm: in seiner immanenten Transzendenz.

          Die Büste des Bodhisattvas, die auf der Südwestterrasse des Erdgeschosses von Fallingwater aufgestellt ist, an einer Stelle, die sich genau über dem Wasserfall befindet, fordert uns auf, dieses Geheimnis der doppelten Bedeutung von Architektur - wie von jedem Kunstwerk, von jedem dinglichen Sein und von jedem Leben überhaupt - für uns selbst zu lüften. Das ist aber nicht durch Nachdenken, durch ge- dankliche Spekulation möglich, welcher Art und Intensität auch immer sie sein mag. Der einzige Zugang ist die meditative, also sinnlich wahrnehmende (und sinnlich vorstellende) Beschäftigung mit dem Gebäude selbst. Je mehr dem Betrachter das Objekt als sinnliches zu Bewußtsein kommt - und jeder, der auf irgendeine Art meditiert, wird wissen, welche enorme, ja unendliche Vertiefungsmöglichkeit sich hier bietet - desto besser und klarer wird er erkennen, was mit dem gemeint ist, von dem in den östlichen Weisheitslehren so viel die Rede ist: dem Einssein. Mit Fallingwater haben wir ein Gebäude vor uns, das die Einladung, mit ihm eins zu werden, auf besonders prägnante Weise ausspricht.

 

 

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