Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

II.2. Das Herzstück der Kathedrale: Chor, Vierung und Capilla Mayor

 

Kurz vor der Vollendung der gotischen Kathedrale, mit der Einwölbung jener Joche, die in der Form eines griechischen Kreuzes über dem zentralen Chorbereich liegen und sich gegenüber dem Rest durch die besonderen Gewölbeformen auszeichnen, stürzte 1511 die gerade fertiggestellte Vierung ein und rieß auch die benachbarten Gewölbeeinheiten mit sich in die Tiefe. Das Mißgeschick schmerzte um so mehr, als Baumeister Alonso Rodríguez gerade dieses zentrale Vierungsgewölbe aufwendig gestaltet und dekoriert hatte: nicht nur zeichnete es sich durch eine komplizierte Linienführung der Gewölberippen aus, sondern zudem durch eine Verkleidung mit farbigen, glasierten Kacheln und eine ganze Anzahl von Skulpturen aus Terrakotta, die unterhalb des Gewölbes an den Vierungswänden angebracht waren und jenem Meister zu verdanken waren, der den imposante Hauptaltar der Kathedrale schuf. Von den über dem zentralen Chorbereich liegenden Gewölben dieses Meisters ist heute nur noch dasjenige über dem ersten der beiden Joche des Presbyteriums erhalten, also dem siebten Mittelschiffjoch. Zusätzlich zu den beiden regulären Diagonalrippen ist der Hauptschlußstein hier, durch Scheitel- und Querrippen, kreuzförmig mit vier Nebenschlußsteinen verbunden, die ihrerseits durch jeweils zwei sog. Nebenrippen von den Eckpfeilern her gestützt werden. Die Kreuzform, die sich zur Mitte der Kathedrale, also zu ihrem Chorbereich hin, in den verschiedenen baulichen Strukturen konzentriert, tritt also hier, in dem unmittelbar vor dem Hauptaltar (achtes Mittelschiffjoch) gelegenen Joch, auch noch innerhalb einer einzelnen Gewölbezeichnung hinzu.

          Einige Zeit trug man sich nach dem Einsturz mit der Idee, die Vierung gar nicht mehr mit einem gotischen, sondern mit einem Muqarnas- oder Stalaktitengewölbe zu überdecken. Dieses Gewölbe, das aus verschiedenartigen geometrischen, ineinander gekeilten Holzstücken konstruiert wird, geht auf eine Erfindung der Almoraviden zurück und wurde von den Almohaden praktisch ausschließlich verwendet. In der Bauweise des mudéjar lebte es auch nach der reconquista in Spanien weiter und hat gerade im Alcázar von Sevilla, schräg gegenüber der Kathedrale, ein glänzendes Beispiel hinterlassen. Welchen ganz und gar anders- und einzigartigen Eindruck böte die Kathedrale heute, wenn sich dieser Plan verwirklicht hätte! Aufwendige Kuppelgewölbe fanden sich in den Moscheen von al-Andalus vor allem im zentralen, auf den Mihrab zulaufenden Mittelschiff, und zwar meist unmittelbar vor jenem. Das schillernde Muqarnas-Gewölbe über der Vierung, zwischen Coro und Presbyterium, also vor dem Hauptaltar plaziert, hätte dieses grandiose Gestaltungselement vielleicht äußerst wirkungsvoll in die gotische Kathedrale hinübergetragen.

          Das Domkapitel jedoch entschloß sich anders, und so entwarf Juan Gil de Hontañón, der neue Baumeister, aufwendige spätgotische Sterngewölbe für Vierung und die verbleibenden drei angrenzenden Joche. Dutzende von Nebenschlußsteinen, auch im Grundriß zirkulare oder geschweifte Rippen und vor allem die fast flächendeckende Dekoration der Gewölbekappen mit skulptierten Kriechblumen verleihen dieser zentralen Region des Kirchenraumes jenen architektonische Glanz, der ihm als dem auch liturgischen Zentrum gebührt.

          Nur von der Vierung aus und allenfalls den beiden angrenzenden Querschiffjochen hat der Besucher der Kathedrale von Sevilla einen Blick auf den Hauptaltar. Vor ihm, nach Osten, erstrecken sich die beiden Joche der sog. Capilla Mayor. Doch auch hier ist der Blick noch von den drei hohen, vergoldeten Eisengittern beeinträchtigt, die jenes siebte Mittelschiffjoch umstellen, innerhalb von dem die Stufen zum Presbyterium hinaufführen. Das achte Mittelschiffjoch, auf drei Seiten ummauert, ist zweigeteilt: während in der vorderen Hälfte der Altar aufgestellt ist, dient die rückwärtige als Sakristei. Hinter dem Betrachter befinden sich die beiden Joche des Coro, die nur vorne, also auf der Ostseite mit einem Eisengitter „geöffnet“, auf alle übrigen Seiten jedoch vermauert sind. Beide Bereiche, Presbyterium und Coro, kommunizieren nicht nur durch den unmittelbaren Blickkontakt, der noch dadurch unterstrichen ist, daß beide gegenüber der Vierung höhergelegt sind, sondern zusätzlich mittels eines schmalen, von Geländern begrenzten Ganges, der sie quer durch die Vierung hindurch verbindet. Was für das Domkapitel und den Erzbischof praktisch ist, wird dem Besucher lästig: er kann sich immer nur rechts oder links von der Mitte der Vierung aufhalten; um den Blickwinkel auf den Hauptaltar zu ändern, muß er einen längeren Fußweg unternehmen, entweder um das Presbyterium herum oder den Coro. Aber der echte Sevillaner ist dieses Zerschnittensein zentraler Plätze und Wege gewöhnt: zumindest während der Semana Santa, denn dann wird durch das halbe Dutzend gleichzeitig stattfindender Prozessionen nicht nur die Kathedrale selbst zweigeteilt, sondern die gesamte Innenstadt. Wer dann von einer Seite der Avenida de la Constitución zur anderen gelangen will, hat die Wahl, sich in die endlose Warteschlange vor einer Art von improvisierter Verkehrskreuzung einzureihen, bei der ein Schutzmann einmal die unendliche Folge von Kreuzträgern der Prozessionen, das andere mal jene ebenfalls ständig umherziehende Unmenge von Schaulustigen passieren läßt, oder aber einen Umweg von einigen Kilometern zu unternehmen, der um die gesamte Carrera oficial herumführt, jenes letzte Wegstück auf die Kathedrale zu, das allen Prozessionen gemeinsam ist.

          Was der Betrachter also zuerst wahrnimmt, sind jene gewaltigen, in mehr als zehn Meter Höhe aufragenden schmiedeeisernen Gitter. Dasjenige des Coro ist besonders interessant. Es ist als erstes von den vieren entstanden, etwa um 1520, und zeigt im unteren Bereich noch vorwiegend Stilmerkmale der Spätgotik, im oberen dagegen der Renaissance. Zu erkennen ist dies etwa an der Verdrängung der im unteren Korpus verwendeten Schlangensäulen für die Gitterstäbe, mit Basis und Kapitell, durch Baluster im oberen Korpus. Eindrucksvoll sind aber vor allem der über den Gitterkorpora verlaufende Fries und das sich über ihm erhebende Gesprenge. Der Fries ist mit einer lateinischen Inschrift unterlegt, die den Anfang von Jesaja 11 zitiert: „Ein Sproß wächst aus dem Baumstumpf Isai, ein neuer Trieb schießt hervor aus den Wurzeln. Ihn wird der Herr mit seinem Geist erfüllen, dem Geist, der Klugheit und Einsicht gibt, ...“ Darüber umrahmen Lorbeerkränze und Blattranken die Figuren von fünf Aposteln. Das hohe Gesprenge, an den Seiten von eisernen espadañas mit je zwei eingehängten Glocken flankiert, stellt eine sog. „Wurzel Jesse“ dar, eine Art von Stammbaum, die Genealogie Christi in seiner Herkunft von Isai („Jesse“), dem Vater König Davids aufzeigend. Ist es doch Christus als „Sohn Davids“, was das Neue mit dem Alten Testament verbindet, so daß das in Erfüllung geht, was der Prophet Jesaja über den kommenden Messias weissagte: „Erit radix Jesse.“ Und so sehen wir den Urvater dieses israelitischen Königsgeschlechts liegend über der Mitte des Frieses, als bildliche Wurzel eines Baumes, der in filigranen Ästen und Ranken weit zu den Seiten des Eisengitters ausgreift, zwölf biblische Gestalten umrahmt und auf der Spitze, von Engeln und Girlanden getragen, den stehenden Erlöser repräsentiert.

          Auch der Coro selbst schlägt mit der in seinem Chorgestühl verwirklichten Ikonographie diese Brücke zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Zwei Reihen von Sitzen, die äußere deutlich erhöht, ziehen sich entlang der Nord- und der Südwand bis um die Westecken herum, bevor sie zwei Türen Platz lassen, durch die der Chor auch von der Rückseite, dem sog. Trascoro aus erreichbar ist. Mittig vor der Westwand ist der Bischofssitz aufgestellt, um fünf rosafarbenen Marmorstufen erhöht und – als einziger der Sitze des Chors – mit einem Baldachin bekrönt. In der Mitte des Raumes fällt das vierseitige Chorpult ins Auge, ein Renaissance-Werk aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, an dem auch Hernán Ruiz d.J. mitwirkte, Kathedralbaumeister und Gestalter der oberen Giralda.

          Das Chorgestühl selbst, aus dunklen Edelhölzern gefertigt, ist noch im ausgehenden 15. Jahrhundert entstanden und trägt somit spätgotische Züge. Die Rückenpaneelen der einzelnen Sitze, als Intarsienarbeiten mit geometrischen Bandmustern, die unglaublich aufwendigen Schnitzereien, mit denen die Flammenbogen über den Sitzen der hinteren Reihe unterlegt sind, das verschlungene Flamboyant-Maßwerk aus Holz, das das Gesprenge bildet, die unzähligen Heiligenstatuen, die über die Pilaster zwischen den Sitzen verteilt sind und schließlich die Reliefs über den einzelnen Dorsalen machen dieses Ensemble zu einem der herausragendsten in Spanien. Die insgesamt 50 Reliefs hinter den Sitzen der vorderen Reihe schlagen einen weiten Bogen, der von der Erschaffung der Welt (man sieht den Erschöpfer auf dem Sitz links vorne im Angesicht eines wallenden Chaos, das zu gestalten er im Begriffe ist) bis zur Auferstehung Christi am dritten Tage nach dem Kreuztod reicht, auf dem Sitz rechts vorne. Aber die geschnitzte Bilderwelt, die der mittelalterliche Domherrenchor liefert, ist noch viel umfassender. Die 64 Dorsalenreliefs der hinteren Sitzreihe und die insgesamt 114 Miserikordien zeigen eine Fülle von Szenen aus dem profanen Leben, die, wenn ihnen auch weitgehend jene erotischen bis obszönen Motive fehlen, wie sie in den Chorgestühlen Mitteleuropas so häufig sind, doch den biblischen Kosmos in einen noch weiter gespannten, realweltlichen eingebettet zeigen.

          Die Kathedrale von Sevilla ist der Virgen de la Sede geweiht. Damit ist nicht (oder zumindest nicht in erster Linie) die Gottesmutter im allgemeinen gemeint, in einer bestimmten Funktion oder gemäß einem bestimmten Darstellungstypus, wie es ein solcher Namenszusatz zum Ausdruck bringen könnte, ähnlich etwa einer Mater Dolorosa, einer „Maria vom Siege“, einer „Guten Hirtin“, etc., sondern eine ganz bestimmte – und, wie der Beiname zum Ausdruck bringt, sitzende – Marienfigur. Ein unbekannter, von der französischen Gotik geprägter Künstler schuf die Madonna mit Kind in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Köpfe und Hände der Holzskulptur sind farbig gefaßt, während die Gewänder mit kunstvoll ziseliertem Silber beschlagen sind. Diese Virgen de la Sede sitzt, in zentraler Position, vor dem Hauptaltar der Kathedrale, dem Retablo Mayor.

          Wie bei so mancher Madonnenfigur gründet sich ihr Ruhm nicht allein auf die künstlerische Reife und Vollkommenheit ihrer Gestaltung, sondern mehr noch auf die wunderbaren oder legendären Geschehnisse, die mit ihr in Verbindung gebracht werden. Zusammen mit der Virgen de los Reyes, einer hölzerne und ankleidbare Skulptur, ähnlich denjenigen auf den Tragschreinen der Semana-Santa-Prozessionen und den Hochaltar der Capilla Real präsidierend, sowie der Virgen de las Batallas, einer kleinformatigen Elfenbeinskulptur, formt die Virgen de la Sede das Dreigestirn der berühmten Sitzmadonnen der Kathedrale von Sevilla. Alle drei aus dem Norden Spaniens stammend sollen sie Fernando III. von Castilla y León bei seinen „Kreuzzügen“ gegen die Mauren begleitet haben und, nach der Kapitulation der Stadt am Guadalquivir, in einer Siegesprozession feierlich in die Stadtmauern Sevillas hineingetragen worden sein.

          Trotz ihrer nicht geringen Größe von ca. 1,25 Metern verschwindet die Marienfigur fast völlig vor einem Altar, der als der größte der Christenheit gilt. Auf einer insgesamt über 25 Meter hohen architektonischen Anordnung, die, zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstanden, sowohl spätgotische (Pilaster, Figurennischen, Baldachine, Flamboyant-Dekorationen) als auch Renaissance-Elemente aufweist (schräggestellte Artesonado-Decke als oberer, baldachinartiger Abschluß des Ensembles) und die daher dem Platero, jenem für die Zeit und den Ort typischen Mischstil zugeordnet werden kann, sind, farbig aus dem gänzlich vergoldeten Rahmenwerk herausgehoben, 34 große Reliefs und eine ungezählte Menge von Heiligenfiguren untergebracht. Die Brüder Jorge und Alejo Fernández Alemán arbeiteten fast ein Vierteljahrhundert an dem Werk, das erst von späteren Künstlern vollendet wurde. Jedes der Reliefs mit Szenen aus dem Leben Christi und dem Marienleben ist, so klein es im Gesamtaltar wirken mag, für sich genommen an die zwei Meter hoch und bietet dem mit einem Fernglas ausgerüsteten Besucher – oder dem Betrachter eines ausführlichen Kathedralbildbandes – einen unerschöpflichen Gegenstand nicht nur der stilistischen und ikonographischen Analyse, sondern auch der Kontemplation und Meditation.

         Über der Artesonado-Decke als Quasi-Baldachin wird der Altar von einem Figurenbalken bekrönt, bestehend aus den zwölf Aposteln und in der Mitte einer Pietà, einer Szene nach der Kreuzabnahme, mit dem Leichnam Christi in den Armen Mariens. Auf das Gesprenge gesetzt und dieses überragend findet sich eine Figurengruppe, die bereits im 13. Jahrhundert gefertigt wurde: Christus in der Agonie des Todes, der Körper verwunden, der Kopf zur Seite gefallen, zwischen den wie versteinert dastehenden Zeugen, Maria und Johannes dem Evangelisten.

 

 

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