Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

I. Die Moschee der Almohaden

 

I.1. Das Minarett

 

Über die weiße, flache Altstadt Sevillas, mit ihren Hunderten von Kirchen und Tausenden von Dachgärten, über die vielen Schleifen des Guadalquivir, der sie durchströmt, und über die weiten, fruchtbaren Felder Andalusiens zu seinen Seiten erhebt sich, weithin sichtbar und bekrönt mit einer riesigen Wetterfahne, als Teil der Kathedrale ein Minarett.

          Es ist nicht von jener zylindrischen und überschlanken Form, wie man sie aus dem arabischen Raum oder dem Vorderen Orient kennt, sondern rechteckig, breit und massiv gebaut, auf quadratischem Grundriß wie im Maghreb üblich. Und so dreht sich die vergoldete Frauengestalt, mit dem Palmwedel in der einen Hand und der großen Standarte in der anderen, über dem Glockenturm der Bischofskirche in einer Höhe von nicht weniger als neunzig Metern.

          Als das Minarett, der Alminar, im Jahre 1198 fertiggestellt war, zierte den kleinen Turm, der auf den größeren aufgesetzt ist, eine mit farbigen und glasierten Keramikkacheln verkleidete Kuppel. Aber nicht nur sie gleißte im Sonnenlicht und brachte die Betrachter zum Verzücken, sondern mehr noch der Yamur, die Minarettbekrönung. Vier goldene „Äpfel“ hatte man, sorgfältig in Baumwolle verpackt, unter Beifallsrufen und Jubel von der Werkstatt zur Moschee gefahren und dort montiert, nicht ohne daß dazu ein Stück Marmor aus der Türöffnung des Muezzin herausgemeißelt werden mußte, damit auch der größte von ihnen hindurchging. Vier vergoldete Kugeln, auf eine lange Eisenstange gespießt, überragten die glänzende Kuppel, mit der größten unten und der kleinsten ganz oben.

          Wer sich heute ein Bild davon machen will, wie das Minarett der Mezquita Mayor, der Hauptmoschee von Sevilla, einst aussah, mit seinen viereinhalb Kugeln auf der Spitze, der möge nach Marrakesch fahren und dort den Turm der Kutubiya-Moschee betrachten. Sie war die Hauptmoschee der Almohaden-Dynastie, bis Emir Abu Yaqub Yusuf im Jahre 1170 Sevilla zur neuen Hauptstadt des Reiches erkor. Auch ihn zog es nach al-Andalus, jenen Teil Spaniens, der damals schon seit vierhundertfünfzig Jahren islamisch war. Und welche andere Stadt konnte seine Residenz werden als Isbiliya, „die große Stadt“, wie sie damals schon hieß.

          Erst 1355 brachte ein Erdbeben die vier goldenen Kugeln zu Fall und die Turmkuppel zum Einsturz. Mehr als hundert Jahre waren seit der reconquista vergangen, der Rückeroberung der Stadt durch Fernando III, König von Castilla y León. Anno 1400, als man sich entschloß, die Moschee, die nun bereits seit hundertfünfzig Jahren als Kirche genutzt worden war und die eine Folge von Erdbeben stark beschädigt hatte, abzureißen und an ihrer Stelle eine gotische Kathedrale zu errichten, wurde die Spitze des Minaretts, das selbst intakt geblieben war, mit einer einfachen Glockenmauer, einer espadaña bekrönt, in der eine einzige Glocke hing.

          Die Kathedrale selbst wurde erst fertig, als überall in Europa bereits die Renaissance Einzug hielt. Zwar gelang es, bis 1519 eine noch rein gotische Bischofskirche abzuschließen, aber es fehlte ihr nicht nur die Chorapsis, sondern auch der Bereich für das Domkapitel. Und so wurde gleich weiter- und angebaut, zuerst in einer Bauweise, die sich der italienischen Renaissance verpflichtet fühlte, dann im Stil des von der Gegenreformation geprägten Manierismus: die Sacristía de los Cálices, die Sacristía Mayor, die Capilla Real und schließlich die Sala Capitular. 1558 erhielt Hernán Ruiz d.J., aus Córdoba gebürtiger Kathedralbaumeister, den Auftrag zur Umgestaltung des Turms.

          Fast von jedem Punkt der Altstadt aus ist die Giralda zu sehen, denn so heißt das Wahrzeichen der Stadt heute, benannt nach seiner Wetterfahne in Menschengestalt. Immer wieder taucht sie unerwartet für denjenigen auf, der durch die Gassen des Barrio Santa Cruz schlendert, das alte Judenviertel am Fuße des Alcázar-Palastes, zeigt sie sich hinter der Biegung weißgetünchter Wände oder über einem flachen Dachabschluß, überragt und krönt sie das stille Gemälde eines Innenhofs mit dem plätschernden Brunnen, der, fast unhörbar, zwischen den Mauern widerhallt. Wer direkt vor ihr steht, auf der Plaza Virgen de los Reyes, erkennt den Sockel aus Kalksteinquadern, die in der ersten Phase des Baus verwendet wurden und aus römischen oder westgotischen Bauwerken der Stadt stammten. Doch schon wenige Monate nach dem Beginn des Turmbaus im Jahre 1184 kam die Arbeit zum Erliegen. Abu Yaqub Yusuf war gestorben, und es vergingen fünf Jahre, bis das Werk seine Fortsetzung fand, unter Abu Yusuf Yaqub al-Mansur, seinem Sohn und Nachfolger. Jetzt wurde Backstein verwendet für die zwei Meter starken Außenmauern und der ganze Turm damit bis zur Spitze hochgezogen.

          Wer die Giralda einmal bestiegen hat, der wird sich über ihren inneren Aufbau gewundert haben: nicht über enge Wendeltreppen führt der Weg nach oben, wie in den abendländischen Kirchtürmen, sondern über eine breite Rampe, die als Abfolge von fünfunddreißig schrägen Teilstücken ansteigt, jeweils von einem der in den Ecken plazierten Absätze zum nächsten und gegen den Uhrzeigersinn. Diese Rampe erleichtert nicht nur dem heutigen Besucher den Aufstieg, sondern machte auch ein Bauen ohne Gerüst und Leitern möglich. 1248, nach der Einnahme der Stadt, konnte Ferdinand III. auf ihr zur Spitze des Minaretts gelangen, reitend zu Pferde, um sich auf der großen Plattform den Untertanen in Siegerpose zu zeigen.

         Den statischen Halt der Rampe ermöglicht ein zweiter, schmalerer, innerer Turm. In derselben Mittelachse wie die äußere Turmschale stehend, wird er ebenfalls aus meterdicken Backsteinmauern gebildet. Im Raum zwischen den beiden ineinandergestellten Türmen verläuft die Rampe nach oben und gewährt zugleich den Zugang zu den sieben überwölbten Gemächern, die sich, übereinander angeordnet, im inneren Turm befinden, völlig unbelichtet sind und deren einstige Funktion ebenfalls bis heute im Dunkeln liegt.

          Die Rampe selbst wird durch eine Vielzahl von Öffnungen in der äußeren Turmwand belichtet. Sie liegen fast immer in der Mittelachse der jeweiligen Fassadenseite und tragen mit ihren orientalisch anmutenden Bögen wesentlich zur Dekoration des Turms bei. Auf den ersten Blick ist die Gestaltung aller vier Seiten gleich, oder zumindest sehr ähnlich; erst wenn man lange genug hinsieht, immer wieder von einer auf die andere Fassadenseite blickt und dazu den Standpunkt mehrmals verändert, entdeckt man eine Merkwürdigkeit, die kein abendländischer Kirchturm aufweist: es gibt, außer am oberen Abschluß, keine umlaufenden Fassadengeschosse. Nicht nur, daß Gesimse fehlen, die um die Ecken des Turms herumgeführt wären, um gleichbleibende Geschoßgrenzen zu markieren; nein, auch das, was scheinbar an allen Fassaden dasselbe ist, die Abfolge der Maueröffnungen und die den geschlossenen Wandflächen vorgeblendeten Ornamente, führt in Wahrheit auf jeder Seite ein Eigenleben: sie befinden sich auf jeder der vier Seiten auf anderer Höhe. Man wird die Kathedrale mehrmals umrunden müssen, um zu erkennen, daß die gesamte Fassadendekoration der Giralda, links herum, gegen den Uhrzeigersinn, mit jeder der vier Seiten ein Stück weiter nach oben ‚rutscht’.

          Am höchsten ist die Fassade auf der Ostseite gewandert, zur Plaza Virgen de los Reyes hin. Hier, an der Hauptschauseite des Turms, stößt der Scheitelpunkt des Zackenbogens über dem obersten der vier Zwillingsfenster, die in der Mittelachse der Fassade übereinander liegen, direkt an die Oberkante des rechteckigen, die Fensterfelder umfassenden Rahmens. Je weiter man im Uhrzeigersinn zurückläuft, desto mehr Platz bleibt zwischen dem obersten Bogen und dem Rahmen für die als Hochrelief gestalteten, rautenförmigen Muster, mit denen auch die äußeren Mauerflächen gefüllt sind.

          Immer von rechteckigen Rahmen umgeben, die Alfiz heißen, wenn sie sich nur um das Bogenfeld selbst legen, blickt ein ganzes Bestiarium verschiedenster Bogenformen auf den Betrachter der Giralda herunter – und mit den Bestien so mancher erschöpfte Turmbesteiger, der, einen Moment verschnaufend, durch eine von ihnen die Aussicht auf den Platz und die Stadt genießt. Da gibt es einfache, runde Hufeisenbögen mit nichts als dem Alfiz zur Zierde. Oder aber Zwillingsbögen in Hufeisenform, durch eine Marmorsäule voneinander getrennt, vielleicht eine römische Spolie. Kleine, nur schießschartenbreite Öffnungen werden von vorgeblendeten Vielpaßbögen überfangen, große Öffnungen von Zacken- oder Hängezapfenbögen der unterschiedlichsten Gestalt.

          Am markantesten aber sind die Blendbogenarkaden auf den äußeren und oberen Wandpartien. Ihre Bögen laufen jenseits der Schnittpunkte diagonal nach oben weiter und lassen jenes geometrische Motiv zum flächendeckenden Ornament werden, das als Sebka bekannt ist und für das die Giralda von Sevilla vielleicht das schönste Beispiel liefert.

 

 

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