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                                                    Meditationen über Kunst und Landschaft

Sternennacht über der Rhône

Vincent van Gogh, 1888

Van Gogh Sternennacht über der Rhône

V.5. Sternenhimmel über der Rhône

 

Im Stadtpark an der Place Lamartine, gegenüber vom Gelben Haus, hat van Gogh das pflanzliche Grün entdeckt, hat es in all seinen Variati- onen erforscht, sich seine vielfältigen Stimmungswerte erarbeitet. Aber gleichzeitig fasziniert ihn noch immer, in diesem magischen, noch sommerlich warmen Monat September, die Nachtmalerei im Freien. Mit der Caféterrasse an der Place du Forum hat der Maler ein erstes großartig Werk dieses neuen Genres geschaffen, und mit dem Bildnis des Eugène Bloch übertrug er die Erfahrungen auf die Portraitmalerei. Läßt sich mit dem, was er nun im „Garten des Dichters“ hinzuge- wonnen hat, nicht seinerseits die Nachtmalerei bereichern?

          Vincent van Gogh wird mit hoher Wahrscheinlichkeit derartige Überlegungen angestellt haben, denn bevor er ans Malen geht, bevor er seine Staffelei aufstellt, durchdenkt er sein neues Sujet sehr genau, rückt in seinem Kopf die Ideen, mit denen er es realisieren will, so lange hin und her, bis sich ihm eine klare Vorstellung ergibt, die er anschließend zügig mit dem Pinsel umsetzen kann. So ist erklärlich, daß der Maler mit erstaunlicher Schnelligkeit arbeitet, sobald er einmal vor dem realen Motiv steht.

          Gerade die Nachtbilder muß van Gogh zügig vollenden, denn die mitgebrachten Kerzen brennen nicht unbegrenzt lange auf seinem Strohhut. Auf den abendlichen Erkundungsgängen – vielleicht auch auf dem Weg zum Bordell – ist ihm schon seit längerem aufgefallen, welche wunderbaren Spiegelungen entstehen, wenn das aus der Nähe so grelle, blendende Gaslicht, jetzt von der Ferne aus betrachtet, seinen Schein auf das ruhige Wasser des breiten, an der Stadt vorbeiziehenden Stromes wirft. Wenn das nächtliche Gaslicht von der Nähe aus gesehen alle anderen Lichtquellen vehement verdrängt, den Kerzenschein in den Fenstern genauso wie die Sterne am Firmament, so läßt es, wenn man sich ein Stück weit von ihm entfernt, wenigstens letzteren ihren angestammten Rang.

          Van Gogh begibt sich also erneut an jene Stelle des Flußufers, nahe der Place Lamartine, an der er bereits mehrfach Zeichnungen angefertigt hat und von der aus man die lange Biegung übersieht, die die Rhône im Angesicht der Silhouette der Altstadt formt. Von diesem Platz aus ist die Szenerie dreigeteilt: oben der Sternenhimmel, darunter, abgetrennt durch das schmale, sich zur Mitte hin in der weit geschwungenen Linie der Flußkrümmung verjüngende und dann, auf der rechten Bildseite, wieder verbreiternde Horizontband der Stadt, der Strom auf seinem Weg zum Mittelmeer und ganz unten eine Partie der Kais, als ein von zwei Diagonalen begrenztes, von unten in die Bildfläche hineinragendes rechtwinkliges Dreieck.

          Links oberhalb der geschwungenen Uferlinie sind schemenhaft die Häuser der Altstadt von Arles zu erkennen, überragt von einem Turm mit flacher Pyramidenspitze, in dem wir die Kathedrale St. Trophime wiedererkennen. Genauso schemenhaft, als bloße schwarze Konturen im dunklen Blau der Nacht, tauchen ganz am linken Bildrand Bäume auf, die die nahe Uferpromenade säumen. Der Himmel ist dramatisch: während das Ultramarin in den oberen Ecken fast dem Schwarz weicht, zeigt sich über der Kernstadt ein leuchtender Schein, der die Himmelsfarbe in vielfältigsten spektralen Abstufungen bis zu hellem Blaugrün führt, aufgetragen in breiten und kurzen waagrechten Strichen, einzeln eingearbeitet in den dunkelblauen Grund wie Intarsiensteine von Lapislazuli oder Türkis, Chrysokoll oder Amethyst, Malachit oder Rubin.

          Punktförmige Gaslichtquellen, in rhythmischen, aber nicht gleichförmigen Abständen auf die Uferpromenade verteilt, tauchen ihre Umgebung in ein gelbliches Orange und schaffen einen Komplemen- tärkontrast zum Blau des Himmels, der ansonsten dunklen Altstadt und des Wassers. Auf die leichten Wellen des Flusses werfen sie gestrichelten Widerschein in Gelb, Orange und hellem Grün. Nicht von derselben Intensität wie das Gaslicht, aber auch nicht kraß dagegen abfallend leuchten die Sterne in der mondlosen Nacht, gelbe Punkte, umgeben von chromgrünen Aureolen, die sich umso mehr ausdehnen, je weiter ein Stern von dem hellen Schein über der Stadt entfernt steht.

          Von einem grünen Schein sind aber auch diejenigen Gaslichter umgeben, die sich weiter weg von der gegenüberliegenden Uferpro- menade befinden; er breitet sich zwar nicht konzentrisch aus wie derjenige der Sterne, hellt aber doch beträchtliche Partien der Stadtsil- houette auf. Auch die Reflexe, die die Gaslichter auf dem Wasser bilden, laufen zum unteren Bildrand hin immer mehr ins Grüne aus.

          Aber was wäre ein solches, geradezu mystisches Bild ohne Vordergrund? Was wäre diese an die Unendlichkeit gemahnende Nachtstimmung ohne ein paar hinzugenommene Elemente, die sie symbolisch und vielsagend auf das menschliche Leben beziehen könnten?

          Oder stehen die beiden Alten wirklich da unten auf der Kaispitze, das Paar mit den untergehakten Armen, und schauen, den lauen Rhôneabend wie den eigenen Lebensabend genießend, lachend und freundlich frontal zu dem Maler empor, der sich offenbar oberhalb der Kaimauer postiert hat? Und die beiden Boote, die hinter ihnen, jenseits der Kaispitze im schillernden Wasser dümpeln, abgetakelt, kaum als Konturen zu erkennen, aber jederzeit bereit, die Verstorbenen mitzu- nehmen in eine andere Welt?

 

 

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