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                                                    Meditationen über Kunst und Landschaft

Lichtung in einem Park

(Der Garten des Dichters I)

Vincent van Gogh, 1888

Van Gogh Lichtung in einem Park - Der Garten des Dichters I

V.4. Der Garten des Dichters

 

Immer wieder wendet sich van Gogh während seiner Zeit in Arles neuen Motiven zu, die er dann in jeweils ganzen Werkreihen, beste- hend aus Zeichnungen und Ölgemälden, geradezu systematisch er- forscht. Oftmals verbindet sich mit einem solchen Motivbereich für den Maler auch ein bestimmtes Repertoire an dafür charakteristischen Farben, deren Verwendung er sich anhand dieses Themenkomplexes erarbeiten kann. Dominierte etwa in den blühenden Obstbäumen das Weiß und das Rosa, so in den Erntebildern der Crau das Goldgelb. In den Seestücken von Saintes-Maries war es das tiefe Blauviolett, in den Zugbrückenbildern das helle Grünblau.

          Jetzt, in den heißen Sommermonaten ist der weite Weg in die freie Landschaft hinaus beschwerlich, und Vincent zieht es vor, seine Motive in der Nähe der Stadt zu suchen. Dazu kommt im September sein Umzug in das Gelbe Haus, der ihn hier beschäftigt hält.

          Gegenüber seiner neuen Wohnung, an der Place Lamartine, befindet sich ein großer Stadtgarten. Van Gogh findet hier eine grüne Parklandschaft vor, die zwar ganz andersartig als die natürliche Landschaft vor den Toren der Stadt ist, aber dafür nicht minder vielfältig und belebt. Hier sind lauschige, geschwungene Sandwege angelegt, stehen Bänke unter hohen, schattigen Bäumen, lustwandeln oder sitzen Spaziergänger, man kann plaudern, in Ruhe Zeitung lesen, den Wind in den Blättern betrachten oder einfach in der Sonne vor sich hin dösen.

          Schon mehrmals hat Vincent seit dem Frühjahr in dem Park gemalt oder gezeichnet, aber nun kommt ihm die Idee zu einer neuen Serie von Bildern, der er den Arbeitstitel „Der Garten des Dichters“ gibt. Ihm schwebt vor, das Schlafzimmer, das er für Gauguin im Gelben Haus eingerichtet hat, mit Gemälden dieses friedfertigen, heiteren Ortes auszuschmücken, der an das zukünftige Künstlerrefugium angrenzt und auf seine Bewohner einen inspirierenden Einfluß ausüben könnte. Die Farbe, die der Maler bei der Arbeit an dieser Motivreihe erproben will, ist das satte, pflanzliche Grün.

          Obwohl van Gogh im September 1888 wesentlich mehr Ölge- mälde in dem Park an der Place Lamartine gemalt hat, so besteht doch die Bilderfolge, der er später ausdrücklich den Titel „Der Garten des Dichters“ zuweist und die er durchnumeriert, letztlich nur aus vier Werken. Von den allesamt großformatigen Bildern (73 x 92 cm) sind heute leider zwei verschollen.

          „Der Garten des Dichters I“ zeigt eine Lichtung in der gepflegten, hier menschenleeren Baumlandschaft des Parks, auf der eine Wiese, ganz sich selbst überlassen, fast meterhoch blüht. Der Park liegt unter einem wolkenlosen Himmel, dessen in pastosen, waagrechten Lagen aufgetragene Farbe von Hellgelb über Zitronengelb bis Limonengrün changiert. Aber nicht nur der Himmel, der weniger als ein Viertel der Bildfläche ausmacht, sondern das ganze Gemälde atmet jene herbe, saure, saftiggrüne Frische, die die Luft dann erfüllt, wenn sich die hochsommerliche Hitze auf eine üppige, wasserreiche Pflanzenwelt legt. So stellt sich van Gogh vielleicht den Geschmack der „Tropen“ vor, von denen er glaubt, daß es dorthin die zukünftigen Malergenerationen ziehen wird, auf der Suche nach noch mehr Licht, nach noch mehr „Japan“.

          Kein Gegenstand, kein bestimmter Baum etwa steht im Mittel- punkt dieses Bildes. Aber auch die Wiese, auf der sich das Gelb des Himmels inmitten des satten Grüns des hohen Grases widerspiegelt, bildet nicht das zentrale Motiv: dieses ist vielmehr die Lichtung als solche, der freie Platz, der Freiraum, also: die Leere. Ein typisch japa- nisches Bildmotiv!

          Der Betrachter steht nicht selbst in der sonnenbeschienen Lichtung, sondern er blickt aus einer Schattenpartie heraus auf sie. Die Schattenkante ist am unteren Bildrand deutlich als eine leicht nach rechts abfallende Diagonale auszumachen. Unterhalb dieser Begren- zung ist das Gras schwarzgrün, mit einzelnen, darauf verteilten Halmen und Punkten, in Grün oder Orange. Zum Hintergrund hin wird die Lichtung von ganz verschiedenartigen, einzeln erkennbaren Parkbäu- men begrenzt: einem beschnittenen Kugelbusch links, einem niedrigen Trauerbaum rechts, in der Mitte von weiß blühenden Oleandersträu- chern. Weiter hinten ist das Schwarzgrün eines Nadelbaumes zu erkennen, einer Norfolk-Tanne vielleicht – und daneben, als Fremdkör- per in dieser Szenerie aus Bäumen und Sträuchern, in ganz andersarti- ger, fast durchscheinender Konsistenz, von der weißlichblauen Farbe eines Kristalls: die Turmspitze der Kathedrale St. Trophime von Arles.

          Der leere Raum, den van Gogh so kunstvoll in der Bildmitte geschaffen hat, als etwas ganz und gar Natürliches, vielleicht in der Natur des Menschen liegendes, steht auf einmal in Beziehung zum Religiösen, und unwillkürlich möchte man an jene japanischen Tusch- zeichnungen denken, in denen irgendwo am Rande, nur für denjenigen sichtbar, der sich der Suche danach mit Leib und Seele verschrieben hat, der durch langes, geduldiges Üben jene Leere in sich erzeugt hat, die für diese Entdeckung notwendige Voraussetzung ist, das Gehörn eines Ochsen sichtbar wird.

 

 

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