Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
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Innenraum nach Westen

VIII. Der Innenraum

 

Jacobikirche Göttingen Innenraum nach Westen

Bild: © Roland Salz 2014

Vergleicht man das Langhaus von St. Jacobi mit demjenigen der ande- ren großen gotischen Kirche Göttingens, der Marktkirche St. Johannis, so zeigt sich, daß jenes bei etwas größerer Breite deutlich kürzer ist. Vielleicht um diese Gegebenheit auszugleichen, das Langhaus also optisch zu verlängern, ist die kurze Jochlänge und die vergleichsweise große Zahl von fünf Langhausjochen gewählt. Durch die vielen Arka- denpfeiler ist der Blick des von Westen die Kirche betretenden Besu- chers zu den Seitenschiffen verstellt, er richtet sich daher nach vorn, unterstützt auch durch die große Zahl der gleichförmig aufeinanderfol- genden Kreuzgratgewölbe, und es entsteht, was man einen Tiefenzug nennt: die kurze Aufeinanderfolge der Joche zieht zuerst den Blick und dann den Betrachter selbst in die Kirche hinein, in Richtung zum Chor. Ganz anders, fast gegensätzlich, wirkt die Abfolge der Joche in St. Johannis. Hier wird das Langhaus nur durch vier, dafür aber fast quadratische Joche gebildet. Dieser Aufbau erzeugt keinen Tiefenzug, im Gegenteil, die weiten Joche laden zum Verweilen ein, zum Blick auch in die Seitenschiffe, zur Wahrnehmung aller drei Schiffe des Langhauses als einheitliche Halle. Obwohl auch St. Jacobi als Hallen- kirche gebaut ist wie alle Göttinger Kirchen – Mittel- und Seitenschiffe sind gleich hoch –, entspricht der hier erzeugte Tiefenzug eher noch dem historisch früheren Modell der Basilika. In Verbindung mit der fortschrittlicheren, aus dem westfälischen Raum auch nach Göttingen gekommenen Hallenkirche stellt er fast einen Anachronismus dar, er widerspricht diesem Konzept der einheitlichen Halle. Aber so, wie der Jakobspilger überall nicht lange verweilen darf, denn der Weg nach Santiago de Compostela ist weit, so hat es auch der Besucher der Kirche eilig, voranzukommen; und so, wie Santiago jenen aus der Ferne in seinen Bann zieht, so strahlt auch im Chor von St. Jacobi zu Göttingen etwas Wunderbares, das aus der Nähe zu betrachten sich der Besucher unwiderstehlich aufmacht …

          Daß der Tiefenzug in St. Jacobi wirklich gewollt ist, zeigt deutlich der Übergang vom Langhaus zum Chor. Die mit den Arkadenpfeilern des Langhauses fluchtenden Chormauern erlauben es dem Blick des Betrachters, ungestört bis in den Chorscheitel weiterzugleiten. Nicht nur die Breite des Raumes bleibt dieselbe beim Übergang vom Mittelschiff zum Chor, auch die gleichmäßige Abfolge der Gewölbejoche wird nicht unterbrochen. Die beiden Joche des Chors sind nur unmerklich kürzer als die des Langhauses. Vor allem aber gibt es überhaupt keinen Triumphbogen, der die Abfolge der Gewölbejoche zwischen Mittelschiff und Chor bremst. Während schwere, hohe Scheidbögen das Mittel- schiffgewölbe zu den Seitenschiffen begrenzen und ein fast ebenso hoher und breiter Gurtbogen zur Turmhalle, ist das Mittelschiffgewölbe zum Chor hin offen. Zwar enden die Scheidbögen des östlichen Lang- hausjochs am Choransatz auf schweren Eckpilastern, die im Quer- schnitt je einem halben Langhauspfeiler entsprechen. Die Rippen des östlichen Langhausjoches, des westlichen Chorjoches und der Gurt- bogen entspringen aber nicht an diesem Halbpfeiler, sondern an klei- nen Konsolen daneben, auf der Innenseite der Chorwände. Auch sind die Gurtbögen von Langhaus und Chor so schmal wie die Rippen der Gewölbe, sie bieten beim Blick nach vorn keinen optischen Widerstand.

          St. Jacobi zu Göttingen hat es in sich. Was den unbedarften Be- sucher der Kirche noch mehr frappiert als dieser erstaunliche Tiefen- zug, und zwar von dem Moment an, in dem er den Innenraum betritt, ist ihre Ausmalung. Bei der letzten Restaurierung 1991 wurden die Wän- de weiß getüncht. Das ist angesichts ihrer tendenziellen Düsterkeit sicherlich eine gute Idee gewesen. Man ging jedoch noch einen Schritt weiter und stellte eine Farbfassung der Strukturglieder wieder her, die die Kirche schon einmal in der Renaissancezeit bekleidet hatte. Die schlanken, hohen, achteckigen Arkadenpfeiler des Langhauses wurden auf allen Seiten mit einem großen dreifarbigen Rautenmuster versehen. Von unten nach oben ist die Abfolge der Farben dabei Weiß, Grau, Weiß, Rot, usw. Steigen die diagonalen Trennlinien zwischen den Farben auf der einen Pfeilerseite an, so fallen sie auf der nächsten ab. Dadurch ergibt sich ein Zickzackmuster, wenn man einen der Pfeiler umkreist oder passiert. Aber die Abfolge der Farben ist von einer Pfeilerseite zur nächsten zudem noch versetzt. Spätestens damit verliert ein jeder der Pfeiler sein Statisches und in sich Ruhendes. Er flimmert, steht unruhig, er tanzt geradezu, ja schwankt. Wie zu einer unhörbaren, sphärischen Musik scheint sich die ganze lange Abfolge der Pfeiler links und rechts des Betrachters beim Vorbeigehen zu bewegen, mühsam zusammengehalten durch die filigranen, ebenfalls in drei Farben, diesmal aber Weiß, Rot und Orange, bemalten Rippen und Gurtbögen des weißleuchtenden Gewölbes. Der arme skandinavische Pilger, dem schon das Muschelrelief vor dem Eingang der Kirche zum Verhängnis geworden ist und der sich erst mit Hilfe der Falken an der Portaltür wieder hat aufrichten können, gerät hier in Gefahr, ein weiteres Mal zu torkeln und zu straucheln. Bronzereliefs im Göttinger Straßenboden und diese sirenenhafte Farbgestaltung der Langhaus- pfeiler erzeugen bei ihm jene betörende Wirkung, die sonst erst Gletscherwasser und Kaiserbirn bei der Überquerung der Alpen zu erreichen vermögen.

          Hat man die durch die Bemalung des Innenraums erzeugten Eindrücke eine Weile lang auf sich wirken lassen, etwa indem man die Gänge in den drei Schiffen mehrfach in beide Richtungen abgeschritten hat, so entdeckt man vielleicht jene anderen Auffälligkeiten dieses Kirchenbaus, die erst auf den zweiten Blick zu erkennen sind. Da wachsen zum Beispiel – ganz analog zum Arkadenbogen der Vorhalle – die Scheidbögen, Gurtbögen und Rippen einfach irgendwo schräg aus den Arkadenpfeilern heraus, ohne daß dieser Gewölbeansatz am Pfeiler selbst durch ein Schmuckglied markiert wäre, wie das seit Jahrhunderten im europäischen Kirchenbau Tradition war. Zwar tragen die Pfeiler Kapitelle, aber diese liegen ein bis zwei Meter unterhalb der Gewölbeansätze! Dadurch sieht es so aus, aus wüchsen die Pfeiler durch diese Kapitelle einfach hindurch. Gewölbeansatz und Kapitell, die sonst immer zusammengehörten, sind hier auseinandergezogen, und der Betrachter erkennt, daß der sonst übliche Zusammenhang der beiden weniger einer architektonischen Notwendigkeit entsprach als willkürlicher Konvention. Die Baumeister von St. Jacobi haben diese Konvention entlarvt und spielerisch außer Kraft gesetzt. Die doppel- kehligen Profile an den Seiten der schweren Scheidbögen und die schlanken Birnstäbe von Gurtbögen und Rippen treten genauso unver- mittelt aus den ebenen Seitenflächen der achteckigen Pfeiler heraus, wie beispielsweise – diesmal wieder am Außenbau – auch die gekehlten Bogenfelder der Fensterlaibungen am Langhaus aus deren ebenen seitlichen Partien. Dieses Prinzip des übergangslosen Ver- schneidens, des bloßen Eintauchens von Profilen in ebene Wände ist auch in den Seitenschiffen durchgehalten und wird beim Übergang zur Turmhalle noch verstärkt. In den Seitenschiffen fehlen Schildbögen vollständig, so daß Gewölbekappen und Seitenwände unvermittelt aufeinandertreffen. Wie die Last der Gewölbekappen an diesen Kanten aufgefangen wird, bleibt dem Betrachter genauso verborgen wie an den Punkten, an denen Gurtbögen und Kreuzrippen auf die Seitenwände treffen: auch hier fehlt jeglicher Dienst und jegliche Konsole, auch hier verschwinden die Profile einfach in der Wand. Das westliche Joch des Langhauses, das an die Turmhalle angrenzt, ist etwas kürzer als die vier übrigen; seine Gewölbe entsprechen im östlichen Ansatz jedoch genau den anderen. Da sie mit denselben Winkeln dieselbe Höhe erreichen, führt die zu kurze Jochlänge dazu, daß sich Scheidbögen und Rippen viel zu früh – und damit viel zu hoch – mit der Wand über der östlichen Turmhallenarkade verschneiden. Es sieht so aus, als sei die Ostwand der Turmhalle zu dicht an die westlichen Langhauspfeiler herangerückt und habe dabei nicht nur den letzten Gurtbogen des Langhausgewölbes, sondern auch die westlichen Partien der Scheid- bögen und Rippen, ja des ganzen Gewölbes einfach „verschluckt“. Tatsächlich sind die östlichen Turmhallenpfeiler ja, wie wir gesehen hatten, um ein Vielfaches dicker als die des Langhauses, und ebenso haben die Mauern über ihren Arkadenbögen eine enorme Stärke. Es sieht also aus, als ob die westlichen Gewölbepartien irgendwo tief im Innern dieser Mauern verschwunden sind und daher einfach nur nicht mehr zu sehen.

          Während die seitlichen Turmhallenarkaden niedrig sind, über ihren Bögen also große Wandflächen verbleiben, ragt die Arkade des Mittelschiffs, wie wir gesehen hatten, bis fast unter das Langhaus- gewölbe. Ihr schwerer Bogen ist durch eine Vielzahl von Hohlkehlen profiliert, steigert also das Motiv der Scheidbögen des Langhauses. Bei den Pfeilern der Turmhalle fehlen nun die Kapitelle ganz – ein logi- scher Folgeschritt auf deren Entlarvung als funktionsloses Schmuck- element im Langhaus.

 

 

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